14.01.2025

Der gewisse Unterschied: Diagnoseirrtum oder Diagnosefehler?

Ein auf einer vertretbaren Deutung erhobener Befunde beruhender objektiver Diagnoseirrtum, nicht aber ein hiervon abzugrenzender vorwerfbarer Diagnosefehler, kann anzunehmen sein, wenn von den vier oder fünf Merkmalen eines seltenen Krankheitsbildes nur zwei vorgelegen haben, von denen das eine wegen geringer Ausprägung nicht erkannt werden musste, während sich das andere durch mehrere häufigere Differentialdiagnose erklären ließ.

OLG Köln v. 11.12.2024 - 5 U 32/23
Der Sachverhalt:
Die Mutter des Klägers hatte am 4.10.2016 in der 14+2 SSW im Krankenhaus der Beklagten eine Ersttrimesteruntersuchung durchführen lassen. Bei dieser waren keine Auffälligkeiten in der fetalen Entwicklung zu erkennen. Eine weitere Kontrollultraschalluntersuchung am 3.11.2016 ergab weiterhin unauffällige Befunde hinsichtlich der Nieren und der Harnblase. In der Zeit vom 15.11.2016 bis zum 18.11.2016 wurde die Mutter des Klägers wegen eines gastrointestinalen Infekts stationär im Haus der Beklagten behandelt. Eine in diesem Zusammenhang durchgeführte Kontrolldiagnostik zeigte einen lebhaften, eutrophen Fetus.

Am 26.11.2016 wurde die Mutter des Klägers aufgrund einer pseudomembranösen Colitis erneut stationär im Haus der Beklagten aufgenommen und behandelt. Am selben Tag wurde eine Ultraschalluntersuchung durchgeführt. Diese wurde am nächsten Tag wiederholt. Infolgedessen wurde eine sonografische Kontrolle in der pränataldiagnostischen Abteilung in der 25+2 SSW für den 20.12.2016 vereinbart. Im Rahmen dieser Ultraschalluntersuchung zeigten sich ein Oligohydramnion sowie das Vollbild einer fortgeschrittenen Verengung der unteren ableitenden Harnwege (sog. LUTO-Erkrankung) beim Kläger.

Im März 2017 wurde der Kläger im Haus der Beklagten geboren und sofort auf die Intensivstation verlegt. Postnatal bestätigten sich das linksseitige Urinom, die Megaureteren sowie eine irreversible Nierenschädigung. Es wurde eine beidseitige Hydronephrose diagnostiziert. Zusätzlich zeigten sich in beiden Nieren kleine Zysten. Am zweiten Lebenstag des Klägers musste mit einer CVVH-Dialyse begonnen werden, die für insgesamt fünf Tage fortgeführt wurde. Am 13.4.2017 wurde der Kläger in stabilem Allgemeinzustand vorübergehend aus der stationären Behandlung entlassen, musste jedoch erneut vom 25.4.2017 bis zum 28.4.2017 für einen operativen Eingriff stationär aufgenommen werden.

Es folgte von Klägerseite gegenüber der Beklagten der Vorwurf eines Behandlungsfehlers und die Forderung nach Schmerzensgeld i.H.v. 200.000 €. Bereits am 27.11.2016 hätte angesichts der auf den Ultraschallaufnahmen zu erkennenden Befunde die LUTO-Erkrankung diagnostiziert werden können und müssen. Jedenfalls hätten sich im Rahmen der beiden Untersuchungen Hinweise auf eine solche Erkrankung ergeben, denen weiter hätte nachgegangen werden müssen. Die Beklagte hielt dagegen, beim Kläger habe sich ein sehr ungewöhnlicher und untypischer Verlauf gezeigt, der behandlerseits nicht habe vorhergesehen werden können.

Das LG hat die Klage abgewiesen. Die hiergegen gerichtete Berufung blieb vor dem OLG erfolglos.

Die Gründe:
Es konnte nicht festgestellt werden, dass die Behandler im Haus der Beklagten die Ultraschallaufnahmen aus November 2016 fehlerhaft befundet hatten.

Interpretiert der behandelnde Arzt die von ihm erhobenen Befunde - wie im vorliegenden Fall - fehl, vermag allein die objektive Fehlerhaftigkeit der Diagnose für sich genommen seine Haftung nicht begründen. Denn stellt sich die Diagnose in der gegebenen Situation unter Anlegung des Facharztstandards als vertretbare Deutung dar, liegt kein Diagnosefehler, sondern ein bloßer Diagnoseirrtum vor, aus dem trotz objektiver Unrichtigkeit der Diagnose keine Haftung des Behandlers hergeleitet werden kann.

Erst dann, wenn sich die gestellte Diagnose (etwa in der Zusammenschau mit weiteren Befunden) für einen gewissenhaften Behandler als nicht mehr vertretbar darstellt, liegt ein haftungsrechtlich vorwerfbares Fehlverhalten im Sinne eines echten Diagnosefehlers vor (BGH-Urt. v. 13.6.2018, Az. 5 U 58/17). Dabei ist nach der ständigen Rechtsprechung auch des erkennenden Senates die Fehlbewertung ordnungsgemäß erhobener Befunde nur mit Zurückhaltung als Fehler zu werten. Grund dafür ist, dass die Symptome einer Erkrankung nicht immer eindeutig sind, sondern in der Situation ex ante auf verschiedene Ursachen hinweisen können, und jeder Patient aufgrund der Unterschiedlichkeiten des menschlichen Organismus die Symptome ein und derselben Krankheit in unterschiedlicher Ausprägung aufweisen kann.

Infolgedessen war die objektiv unrichtige Bewertung des Befundes der Ultraschalluntersuchung vom 27.11.2016 und die Verkennung der beginnenden LUTO-Erkrankung unter Zugrundelegung der Gutachtenerläuterung vor dem Senat in rechtlicher Hinsicht lediglich als Diagnoseirrtum zu werten und nicht als Diagnosefehler. Die fehlerhafte Deutung der Befunde stelle sich medizinisch nicht als unvertretbar dar. Aus der maßgeblichen ex ante Sicht war gänzlich unklar, ob sich eine LUTO-Erkrankung entwickeln würde oder nicht. Die im Haus der Beklagten vorgenommene Deutung der vergrößerten Harnblase im Sinne einer bloß vorübergehend stärker gefüllten, sich demnächst wieder entleerenden Blase, einer leichten Obstruktion der Urethra in Form einer nur partiellen LUTO oder einer neurogenen Blasenentleerungsstörung hat der Gutachter in dieser Situation als vertretbar angesehen.

Die hier ausgesprochene Empfehlung einer Wiedervorstellung in drei Wochen war ebenfalls nicht fehlerhaft. Wegen der nur gering ausgeprägten Befundlage waren weder fetalchirurgische noch weitergehende diagnostische Maßnahmen indiziert. Die vorgefundene Pyelektasie hat der Gutachter zwar als nicht normal, aber auch nicht als Seltenheit gesehen. Ihr hätten aus der Sicht ex ante Dutzende verschiedene Ursachen zugrunde liegen können. Der Befund habe auch keine Dynamik erkennen lassen.

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Aufsatz
Rüdiger Martis / Martina Winkhart-Martis
Arzthaftungsrecht: Aktuelle Rechtsprechung zur Aufklärung des Patienten
MDR 2024, 412

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