17.10.2023

Dieselfall: Mercedes-Benz kann sich bei KBA-Pflichtrückruf wegen Abschaltfunktion nicht auf unvermeidbaren Verbotsirrtum berufen

Bei der Kühlmittel-Solltemperatur-Regelung (KSR) handelt es sich um eine unzulässige Abschalteinrichtung i.S.d. Art. 3 Nr. 10 VO (EG) Nr. 715/2007. Solche Einrichtungen, die nur kurzfristig und nicht während der gesamten Fahrt unter normalen Betriebsbedingungen arbeiten, wären nach Art. 5 Abs. 2 lit. b VO (EG) 715/2007 nur zum Anlassen des Motors zulässig. Jedenfalls bei einem vorliegenden KBA-Pflichtrückruf wegen der Abschaltfunktion "Geregeltes Kühlmittelthermostat" (KSR) ist dem Hersteller die Berufung auf einen unvermeidbaren Verbotsirrtum in Form der hypothetischen Genehmigung durch die zuständige Zulassungsbehörde verwehrt.

Schleswig-Holsteinisches OLG v. 10.10.2023 - 7 U 100/22
Der Sachverhalt:
Der Kläger nimmt die Beklagte wegen Schadenersatz aus dem sog. "Diesel-Abgasskandal" in Anspruch. Der Kläger erwarb im Juli 2017 von privat zum Preis von 18.500 € einen gebrauchten Pkw Mercedes-Benz E 200 CDI, EU 5 mit AGR (EZ 14.7.2011), der zum Kaufzeitpunkt einen Kilometerstand von 78.701 km aufwies. In dem Fahrzeug ist ein Motor vom Typ OM 651 verbaut.

Das Fahrzeug des Klägers ist, gemeinsam mit den Fahrzeugtypen GLK 200 CDI und GLK 220 CDI 4MATIK, von einem nicht rechtskräftigen amtlichen Rückruf des Kraftfahrtbundesamts (KBA) vom 21.6.2019 betroffen. Bemängelt wurde, dass der Motor als unzulässige Abschalteinrichtung ein "Geregeltes Kühlmittelthermostat" aufweise, dessen Regelung konkret während des Motorwarmlaufs gerügt wurde. Unstreitig ist das Gros der EU 5 Modelle der Pkw-Sparte der Beklagten, in denen das geregelte Kühlmittelthermostat zum Einsatz gelangt (> 80 %) nicht von einem KBA-Rückruf betroffen. Die Funktion des geregelten Kühlmittelthermostats ist darüber hinaus in keinem Fahrzeug der Beklagten mit der Abgasnorm EU 6 sowie in keinem Fahrzeug mit dem Motortyp EA 642 beanstandet worden. Das aufgrund der Beanstandung von der Beklagten erstellte Software-Update, das inzwischen auch auf dem Fahrzeug des Klägers aufgespielt wurde, ist am 3.7.2020 vom KBA freigegeben worden. Die Beklagte informierte den Kläger mit Schreiben von August 2020 über die Rückrufaktion.

Im Oktober 2020 verlangte der Kläger von der Beklagten Rückzahlung des Kaufpreises gegen Rückübereignung des Pkw. Der Kläger erhob im November 2020 Klage. Er behauptet, in seinem Fahrzeug seien unzulässige Abschalteinrichtungen verbaut, durch die die behördliche Fahrzeugprüfung gezielt umgangen werde.

Das LG wies die Klage ab. Die Berufung des Klägers hatte vor dem OLG keinen Erfolg.

Die Gründe:
Schadenersatzansprüche des Klägers ergeben sich weder aus §§ 826, 31 BGB noch aus §§ 823 Abs.2 BGB i.V. mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV. Nach der geänderten Rechtsprechung des BGH (Urteile vom 26.6.2023 - VIa ZR 335/21, VIa ZR 533/21 und VIa ZR 1031/22) kann der Geschädigte zwar nunmehr auch bei einer fahrlässigen Schutzgesetzverletzung kleinen Schadensersatz (Differenzschaden) in einer Bandbreite von 5 bis 15 % des gezahlten Kaufpreises erhalten, jedoch liegen die Voraussetzungen für einen solchen Schadensersatzanspruch in diesem Fall nicht vor.

Nach den Urteilen des BGH vom 26.6.2023 ist das unionsrechtlich geschützte Interesse, durch den Abschluss eines Kaufvertrags über ein Kraftfahrzeug nicht wegen eines Verstoßes des Fahrzeugherstellers gegen das europäische Abgasrecht eine Vermögenseinbuße im Sinne der Differenzhypothese zu erleiden, von § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. §§ 6 Abs. 1, 27 Abs. 1 EG-FGV geschützt. Die unionsrechtlichen Verordnungen sind von den verfassungsrechtlichen Anforderungen des Art. 80 Abs. 1 GG gedeckt. Maßstab für die Frage der Zulässigkeit einer Funktionsveränderung des Emissionskontrollsystems in Abhängigkeit von bestimmten Parametern ist nach Art. 3 Nr. 10 VO (EG) 715/2007 ist nicht die Einhaltung des Grenzwerts auf dem Prüfstand, sondern die Wirksamkeit des unverändert funktionierenden Emissionskontrollsystems unter den Bedingungen des normalen Fahrbetriebs. Auf das vom KBA angenommene Unterscheidungskriterium der Grenzwertkausalität kommt es nicht an.

Für Zulässigkeit eines Thermofensters kommt es nicht auf die Einhaltung gesetzlicher Prüfstandswerte an, sondern ob die Abschalteinrichtung auch unter normalen Betriebsbedingungen den überwiegenden Teil des Jahres funktioniert. Normale Betriebsbedingungen herrschen im Gebiet der Europäischen Union jedenfalls in einem Temperaturbereich von 0°C bis +30°C. Im Hinblick auf den Verbau eines Thermofensters unterlagen deutsche Fahrzeughersteller - jedenfalls bis zum Erlass der EuGH Entscheidung vom 17.12.2020 (C-693/18) - einem unvermeidbaren Verbotsirrtum und handelten deshalb nicht fahrlässig.

Bei der Kühlmittel- Solltemperatur- Regelung (KSR) handelt es sich um eine unzulässige Abschalteinrichtung i.S.d. Art. 3 Nr. 10 VO (EG) Nr. 715/2007. Solche Einrichtungen, die nur kurzfristig und nicht während der gesamten Fahrt unter normalen Betriebsbedingungen arbeiten, wären nach Art. 5 Abs. 2 lit. b VO (EG) 715/2007 nur zum Anlassen des Motors zulässig. Das für die Haftung des Herstellers nach § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. §§ 6 Abs. 1, 27 Abs. 1 EG-FGV erforderliche Verschulden (mindestens Fahrlässigkeit) wird vermutet. Jedenfalls bei einem vorliegenden KBA-Pflichtrückruf wegen der Abschaltfunktion "Geregeltes Kühlmittelthermostat" (KSR) ist dem Hersteller die Berufung auf einen unvermeidbaren Verbotsirrtum in Form der hypothetischen Genehmigung durch die zuständige Zulassungsbehörde verwehrt.

Nutzungsvorteile und der Restwert des Fahrzeugs sind insoweit schadensmindernd anzurechnen, wenn sie den Wert des Fahrzeugs bei Abschluss des Kaufvertrags (gezahlter Kaufpreis abzgl. Differenzschaden) übersteigen. Der Restwert des Fahrzeugs kann vom Gericht anhand bekannter Bewertungsportale (Schwacke/DAT) und ggf. auch durch entsprechende Recherchen auf Gebrauchtwagenbörsen (z.B. mobile.de, Autoscout.24.de geschätzt werden. Durch die Vorteilausgleichung (Nutzungsvorteil + Restwert) kann der angenommene Differenzschaden auch vollständig ausgeglichen sein.

Mehr zum Thema:

Rechtsprechung:
Abgas-Skandal: Differenzschaden bei Fahrzeugen mit Thermofenster
BGH vom 26.06.2023 - VIA ZR 335/21
MDR 2023, 978

Rechtsprechung
Abgas-Skandal: Differenzschaden bei Fahrzeugen mit Thermofenster
BGH vom 26.06.2023 - VIA ZR 533/21
MDR 2023, 980

Rechtsprechung:
Urteil
BGH vom 26.06.2023 - VIA ZR 1031/22

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