22.02.2022

Dieselskandal: Anspruch nach § 852 Satz 1 BGB bei Neuwagenkauf

Käufern von vom Dieselskandal betroffenen Neuwagen, deren Anspruch nach § 826 BGB verjährt ist, steht ein Anspruch gegen den Hersteller aus § 852 Satz 1 BGB zu. Dieser Anspruch besteht ohne Rücksicht darauf, dass der Hersteller auch vor Ablauf der Verjährung ohne Schwierigkeiten als Schädiger hätte in Anspruch genommen werden können.

BGH v. 21.2.2022 - VIa ZR 8/21 u.a.
Der Sachverhalt:
In den beiden vorliegenden Verfahren nehmen die Kläger die beklagte Volkswagen AG auf Schadensersatz nach Erwerb eines Kraftfahrzeugs in Anspruch.

Der Kläger im Verfahren VIa ZR 8/21 erwarb im April 2013 zu einem Kaufpreis von rd. 30.000 € einen Neuwagen VW Golf Cabrio "Life" TDI von der Beklagten als Herstellerin, der mit einem Dieselmotor der Baureihe EA 189 versehen war. Die Klägerin im Verfahren VIa ZR 57/21 erwarb im Juli 2012 zu einem Kaufpreis von rd. 36.000 € einen von der Beklagten hergestellten Neuwagen VW EOS 2.0 l TDI von einem Händler. Dieser Neuwagen war ebenfalls mit einem Dieselmotor der Baureihe EA 189 versehen. Beide Fahrzeuge waren bei Erwerb mit einer Software ausgestattet, die erkannte, ob es sich auf einem Prüfstand befand, und in diesem Fall vom regulären Abgasrückführungsmodus in einen Stickoxid-optimierten Modus wechselte.

Ab September 2015 wurde - ausgehend von einer Pressemitteilung der Beklagten vom 22.9.2015 - über den sog. Abgasskandal betreffend Motoren des Typs EA 189 in den Medien berichtet. Beide Kläger ließen ein von der Beklagten entwickeltes Software-Update aufspielen. Im Jahr 2020 erhoben beide Kläger Klage gegen die Beklagte.

In beiden Verfahren wiesen die Berufungsgerichte die Klagen ab. Zwar lägen die Voraussetzungen eines Schadensersatzanspruchs nach § 826 BGB vor. Dieser Anspruch sei indessen verjährt. Wenn der Kläger im Verfahren VIa ZR 8/21 im Jahr 2015 keine Kenntnis von der Betroffenheit seines Fahrzeugs vom Dieselskandal erlangt habe, habe seine Unkenntnis auf grober Fahrlässigkeit beruht. Im Verfahren VIa ZR 57/21 habe die Klägerin im Februar 2016 aufgrund eines Informationsschreibens der Beklagten Kenntnis nicht nur vom Diesel- oder Abgasskandal allgemein, sondern auch von der individuellen Betroffenheit ihres Fahrzeugs erlangt; daher sei ihr ab dem Jahr 2016 eine Klage gegen die Beklagte zumutbar gewesen. Einen (unverjährten) Anspruch auf Gewährung von Restschadensersatz nach § 852 Satz 1 BGB könnten beide Kläger gegen die Beklagte nicht geltend machen.

Der BGH hob in beiden Verfahren auf die Revisionen der Kläger die Berufungsurteile insoweit auf, als die Berufungsgerichte einen Anspruch auf Schadensersatz auf der Grundlage des von den Klägern verauslagten Kaufpreises verneint und den Anträgen auf Feststellung des Annahmeverzugs nicht entsprochen haben und verwies die Sachen zur neuen Verhandlung und Entscheidung an die Berufungsgerichte zurück. Soweit die Kläger Ersatz vorgerichtlich verauslagter Anwaltskosten begehrten, bestätigte der BGH die klageabweisenden Entscheidungen.

Die Gründe:
Die Revision kann nicht wirksam auf die Frage des Bestehens eines Anspruchs aus § 852 Satz 1 BGB beschränkt werden. Vielmehr war in beiden Verfahren nicht nur zu überprüfen, ob die Berufungsgerichte einen Anspruch aus § 852 Satz 1 BGB rechtsfehlerfrei verneint haben, sondern vorrangig auch, ob ihre Überlegungen zu einer Verjährung des Anspruchs aus § 826 BGB zutreffen.

Im Verfahren VIa ZR 57/21 war von einer Verjährung des Anspruchs aus § 826 BGB schon deshalb auszugehen, weil die Klägerin im Jahr 2016 über die konkrete Betroffenheit ihres Fahrzeugs durch ein Schreiben unterrichtet worden war und ein Software-Update hatte aufspielen lassen. Im Verfahren VIa ZR 8/21 hat sich der VIa. Zivilsenat der Auffassung des VII. Zivilsenats angeschlossen, dass den Kläger jedenfalls ab dem Jahr 2016 jedenfalls der Vorwurf grob fahrlässiger Unkenntnis von der Betroffenheit seines Fahrzeugs vom Dieselskandal getroffen hat. Da beiden Klägern die Klageerhebung noch im Jahr 2016 zumutbar war, hat die dreijährige Verjährung des Anspruchs aus § 826 BGB mit dem Schluss des Jahres 2016 begonnen und ist am 31.12.2019 abgelaufen, so dass sie durch die Erhebung der Klagen im Jahr 2020 nicht mehr wirksam gehemmt werden konnte.

Die Beklagte kann sich auch im Verfahren VIa ZR 8/21 auf die Einrede der Verjährung des Anspruchs aus § 826 BGB berufen, obwohl sie auf diese Einrede in erster Instanz "verzichtet" hat. Diesen Verzicht hat das Berufungsgericht zutreffend nicht als endgültigen materiell-rechtlichen Verzicht gewertet. Richtig haben beide Berufungsgerichte auch entschieden, dass es der Beklagten nach Treu und Glauben nicht verwehrt ist, sich auf die Einrede der Verjährung zu berufen.

Nach Verjährung des Anspruchs aus § 826 BGB steht den Klägern in beiden Verfahren aber ein Anspruch auf Restschadensersatz nach § 852 Satz 1 BGB zu. Dieser Anspruch besteht ohne Rücksicht darauf, dass die Beklagte auch vor Ablauf der Verjährung ohne Schwierigkeiten als Schädigerin hätte in Anspruch genommen werden können. Der Geltendmachung eines Anspruchs aus § 852 Satz 1 BGB steht auch nicht entgegen, dass sich die Kläger nicht an einem Musterfeststellungsverfahren gegen die Beklagte beteiligt haben.

Nach § 852 Satz 1 BGB muss die Beklagte, die die Kläger durch das Inverkehrbringen des Fahrzeugs geschädigt hat, das von ihr Erlangte herausgeben. Erlangt hat die Beklagte im Verfahren VIa ZR 8/21 zunächst einen Anspruch gegen den Kläger aus dem Kaufvertrag. Nach Erfüllung der Forderung aus dem Kaufvertrag durch den Kläger hat die Beklagte als Ersatz i.S.d. § 818 Abs. 1 Halbsatz 2 BGB den Kaufpreis erlangt. Im Verfahren VIa ZR 57/21 hat die Beklagte eine Forderung gegen den Händler aus Kaufvertrag erlangt. Ihre Bereicherung setzt sich nach Erfüllung dieser Forderung am Händlereinkaufspreis fort, der geringer war als der von der Klägerin später gezahlte Kaufpreis und dessen Höhe zwischen den Parteien im konkreten Fall nicht in Streit stand. Nicht "erlangt" hat die Beklagte dagegen Leistungen an die von den Klägern vorgerichtlich mandatierten Rechtsanwälte und von der Klägerin im Verfahren VIa ZR 57/21 verauslagte Finanzierungskosten, so dass sich der Anspruch aus § 852 Satz 1 BGB - anders als der verjährte Anspruch aus § 826 BGB - nicht auf solche Schäden erstreckt.

Von dem erlangten Kaufpreis bzw. Händlereinkaufspreis kann die Beklagte Herstellungs- und Bereitstellungskosten nach § 818 Abs. 3 BGB nicht abziehen, weil sie sich i.S.d. § 818 Abs. 4, § 819 BGB bösgläubig bereichert hat. Allerdings reicht der Anspruch auf Restschadensersatz aus §§ 826, 852 Satz 1 BGB nicht weiter als der Anspruch auf Schadensersatz aus § 826 BGB, der grundsätzlich der Vorteilsausgleichung unterliegt. Die Kläger müssen sich deshalb eine Nutzungsentschädigung für die von ihnen mit den Fahrzeugen gefahrenen Kilometer anrechnen lassen und können Zahlung nur Zug um Zug gegen Herausgabe der Fahrzeuge verlangen.

Da die Vorinstanzen - von ihrem Rechtsstandpunkt aus folgerichtig - keine Feststellungen zur Höhe einer anzurechnenden Nutzungsentschädigung getroffen haben, waren die Sachen zur Klärung der Höhe anzurechnender Vorteile an die Berufungsgerichte zurückzuverwiesen.

Mehr zum Thema:

  • Kurzbeitrag: BGH - Anspruch des Dieselkäufers nach seiner Wahl auf "kleinen" oder "großen" Schadensersatz (ZIP 2022, R4)
  • Kurzbeitrag: BGH - Schadensersatzanspruch eines Dieselkäufers gegen Audi AG trotz verbrieften Rückgaberechts (ZIP 2022, R5)
  • Aufsatz: Grigoleit - Der Haftungsausfüllungstatbestand in "Dieselklagen" (ZIP 2021, 1993)
  • Praxisrelevante Lösungen für alle Fragestellungen zum Wirtschafts- und Gesellschaftsrecht finden Sie in unserem umfassenden Aktionsmodul Gesellschaftsrecht - jetzt 4 Wochen lang kostenlos testen.
BGH PM Nr. 22 vom 21.2.2022
Zurück