Dilemma mit der baulichen Änderung und der Kostenregelung nach der WEG-Reform 2020
AG Kassel 7.4.2022 - 800 C 3797/21Die Parteien bilden die Wohnungseigentümergemeinschaft. Hierbei handelt es sich um eine sog. Zwei-Haus-Anlage. In beiden Gebäuden befindet sich je eine Fahrstuhlanlage. In der Teilungserklärung ist in § 6 Nr. 4 der Gemeinschaftsordnung bei größeren Instandsetzungsmaßnahmen eine Beschlussfassung mit einfacher Mehrheit vorgesehen sowie in § 15 Nr. 5 daselbst die Abstimmung nach Miteigentumsanteilen, sofern nicht Wahl oder Abberufung des Verwalters betroffen ist. Einige der Eigentümer sind auf barrierefreie Fahrstühle angewiesen.
In der Eigentümerversammlung vom 21.10.2019 berieten die Eigentümer über Arbeiten an den bis dahin nicht barrierefreien Fahrstuhlanlagen. Die dort unter den TOP 3.1 bis 3.3. gefassten Beschlüsse sind Gegenstand des Verfahrens 800 C 4204/19. Die dort gefassten Beschlüsse zu TOP 3.2 und 3.3 sehen die Neuerrichtung der beiden Fahrstuhlanlagen in nahezu barrierefreier Ausführungsvariante vor mit der Maßgabe, dass die durch diese Variante entstehenden Mehrkosten den jeweils antragstellenden Miteigentümern auferlegt werden.
In der Versammlung vom 8.11.2021 beschäftigten sich die Eigentümer erneut mit der Neuerrichtung der beiden Fahrstuhlanlagen. Im Rahmen des TOP 11.1 beschlossen sie erneut die Herstellung nahezu barrierefreier Aufzüge, jedoch mit der Maßgabe, dass die Gesamtkosten aus der Rücklage zu finanzieren seien und bestehende Beschlüsse als aufgehoben gelten, soweit sie diesen Beschluss widersprechen. Ausweislich des Protokolls stimmten 9 Köpfe mit 443,04/1000 MEA dafür, 3 Köpfe mit 147,50/1000 MEA dagegen und 3 weitere Köpfe mit 146,36/1000 MEA enthielten sich. Zur Beschlussverkündung vermerkte das Protokoll, der Beschluss sei nicht zu Stande gekommen.
Der Kläger war der Ansicht, die im Protokoll vermerkten Mehrheitsverhältnisse stellten eine Annahme des Beschlusses zum TOP 11.1 dar. Darüber hinaus amortisierten sich die Mehrkosten von jeweils ca. 15.000 € für die Herstellung der beiden Fahrstühle in nahezu barrierefreier Ausführung innerhalb eines angemessenen Zeitraums. Er begehrte im Wege der Beschlussanfechtungsklage die Ungültigerklärung der drei Beschlüsse sowie im Wege der Beschlussersetzungsklage die Feststellung, dass ein bestimmter Beschluss getroffen worden ist.
Das AG hat die Klage abgewiesen.
Die Gründe:
Der Negativ-Beschluss der Eigentümerversammlung zum TOP 11.1 ist nicht unwirksam, ein Anfechtungsgrund liegt nicht vor.
Eine einfache Mehrheit genügt dann nicht, wenn der Beschluss über die bauliche Veränderung zugleich mit einer vom gesetzlichen Modell des § 21 WEG abweichenden Regelungen zur Kostentragung verknüpft ist. Und dies ist hier der Fall. Denn nach § 21 Abs. 1 S. 1, 2. Alt. WEG hat derjenige Wohnungseigentümer die Kosten einer baulichen Veränderung zu tragen, die aufgrund seines Verlangens durchgeführt werden soll. Der streitgegenständliche Vorgang stellt einen solchen Fall dar. Denn die Erstellung der Fahrstuhlanlagen in den beiden Häusern in der Ausbauvariante, die das Erreichen eines nahezu barrierefreien Zustands zum Ziel hat, beruht auf der Antragstellung durch konkrete Miteigentümerinnen und Miteigentümer. Unstreitig verursacht diese Ausbauvariante auch höhere Kosten.
Wird eine bauliche Veränderung auf Antrag einzelner Wohnungseigentümer beschlossen und zugleich allen Wohnungseigentümern die dafür erforderlichen Kosten auferlegt, ohne dass sich die Kosten in angemessener Zeit amortisieren und ohne dass die in § 21 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 WEG erforderliche doppelt qualifizierte Mehrheit zustande gekommen ist, so ist der Beschluss nicht zustande gekommen bzw. anfechtbar. Dies gilt jedenfalls dann, wenn die Maßnahme bereits mit einem früheren Beschluss beschlossen worden ist und der Folgebeschluss vor allem dazu dienen soll, entgegen des früheren Beschlusses die Kosten nicht nur den antragstellenden Eigentümern aufzuerlegen, sondern allen Eigentümern.
Die neue Gesetzeslage ruft ein Dilemma hervor, weil die bauliche Veränderung isoliert mit einfacher Mehrheit beschlossen werden könnte, eine Kostenregelung jedoch nicht (vgl. dazu Jennißen in Jennißen, WEG Kommentar 7. Aufl., § 21 WEG Rdnr. 34 ff.). Dieses Dilemma kann nur dahingehend aufgelöst werden, dass dann ein Beschluss über eine bauliche Veränderung insgesamt ungültig ist, wenn die vom Beschlusstext gewollte Kostenfolge - hier die anteilige Kostentragung aller Miteigentümerinnen und Miteigentümer - nicht eintreten kann. Eine anderweitige Auflösung des Dilemmas ist bereits deswegen nicht denkbar, weil von vornherein nicht ausgeschlossen werden kann, dass die Zustimmung zu einem Beschluss über eine bauliche Veränderung von einzelnen Miteigentümern nur deswegen erteilt wird, weil die Kosten dafür auf alle Miteigentümerinnen und Miteigentümer anteilig umgelegt werden und nicht nur auf diejenigen, die im Übrigen von § 21 WEG als kostentragungspflichtig erklärt werden.
Selbst wenn man dies anders sehen sollte, so würde dies dann aber bedeuten, dass nur die beschließenden Miteigentümer kostenpflichtig wären. Dies kann aber in einer Konstellation wie der hier anzutreffenden nicht richtig sein, weil mit den Beschlüssen vom 21.10.2019 zu TOP 3.2 und 3.3 bereits Regelungen getroffen worden waren, die nur im Kostenpunkt mit der Zielrichtung der Sozialisation der Mehrkosten des nahezu barrierefreien Ausbaus auf alle Miteigentümer geändert werden sollten; diese Lösung kann also nur dann Bestand haben, wenn sich die zustimmend Abstimmenden zuvor über eine solche Konsequenz hinreichend im Klaren waren, dass nur sie dann die Kosten zu tragen habe. Das war aber im vorliegenden Fall nicht feststellbar. Da der Beschluss zu TOP 11.1 sich alleine dadurch rechtfertigt, dass im Wesentlichen nur die Kostentragungsregelung von den Beschlüssen aus der Eigentümerversammlung vom 21.10.2019 zu TOP 3.2 und 3.3 abweicht, ist damit der Beschluss insgesamt hinfällig und die Aussage im Protokoll, er sei nicht zustande gekommen, ist folglich richtig.
KOMMENTIERUNG
Jennißen (Hrsg.), Wohnungseigentumsgesetz, 7. Aufl. 2022
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