Einhaltung der Rechtsmittelbegründungsfrist: Prüfpflichten des Rechtsanwalts
BGH v. 17.5.2023 - XII ZB 533/22
Der Sachverhalt:
In dem Verfahren um Ansprüche aus einem Mietverhältnis wurde dem Prozessbevollmächtigten der Beklagten der richterliche Hinweis erteilt, dass der Fristverlängerungsantrag für die Berufungsbegründungsfrist verspätet gestellt worden sei. Die Beklagte beantragte daraufhin Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die versäumte Berufungsbegründungsfrist. Die in der Kanzlei tätige Rechtsanwaltsfachangestellte habe auf dem zugestellten erstinstanzlichen Urteil den 21.10.2022 als Berufungsbegründungsfrist notiert, aufgrund eines erstmaligen Fehlers jedoch in den händisch geführten Fristenkalender versehentlich den 28.10.2022 als Berufungsbegründungsfrist eingetragen. Der Beklagtenvertreter habe die handschriftlich auf der Urteilsabschrift notierte Fristberechnung auf ihre Richtigkeit kontrolliert und sei hinsichtlich der Übertragung in den Fristenkalender von einer korrekten Übertragung ausgegangen.
Das OLG wies den Wiedereinsetzungsantrag zurück und verwarf die Berufung als unzulässig. Der BGH hat die hiergegen eingelegte Rechtsbeschwerde verworfen.
Die Gründe:
Entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerde sind die Voraussetzungen für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht erfüllt. Denn die Beklagte hat die Berufungsbegründungsfrist nicht unverschuldet iSv § 233 Satz 1 ZPO versäumt. Vielmehr beruht das Versäumnis auf einem Verschulden ihres Prozessbevollmächtigten, welches sie sich nach § 85 Abs. 2 ZPO zurechnen lassen muss.
Die Sorgfaltspflicht in Fristsachen verlangt von einem Rechtsanwalt alles ihm Zumutbare, um die Wahrung von Rechtsmittelfristen zu gewährleisten. Dabei kann die Berechnung und Notierung von Fristen einer gut ausgebildeten, als zuverlässig erprobten und sorgfältig überwachten Bürokraft übertragen werden. Dann hat der Rechtsanwalt aber durch geeignete organisatorische Maßnahmen sicherzustellen, dass die Fristen zuverlässig festgehalten und kontrolliert werden. Zu den zur Ermöglichung einer Gegenkontrolle erforderlichen Vorkehrungen im Rahmen der Fristenkontrolle gehört insbesondere, dass die Rechtsmittelfristen in der Handakte notiert werden und die Handakte durch entsprechende Erledigungsvermerke oder auf sonstige Weise erkennen lässt, dass die Fristen in den Fristenkalender eingetragen worden sind (BGH v. 19.10.2022 - XII ZB 113/21).
Darüber hinaus hat ein Rechtsanwalt nach ständiger Rechtsprechung des BGH den Ablauf von Rechtsmittelbegründungsfristen immer dann eigenverantwortlich zu prüfen, wenn ihm die Akten im Zusammenhang mit einer fristgebundenen Verfahrenshandlung, insbesondere zu deren Bearbeitung, vorgelegt werden. Der Rechtsanwalt muss in diesem Fall auch alle weiteren unerledigten Fristen einschließlich ihrer Notierung in den Handakten prüfen.
Die Einhaltung einer Rechtsmittelbegründungsfrist ist ferner nicht nur durch die Eintragung der Hauptfrist, sondern zusätzlich durch eine ausreichende Vorfrist sicherzustellen. Die Vorfrist dient dazu, dass auch für den Fall von Unregelmäßigkeiten und Zwischenfällen noch eine ausreichende Überprüfungs- und Bearbeitungszeit bis zum Ablauf der zu wahrenden Frist verbleibt. Eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der zu wahrenden Frist kommt nicht in Betracht, wenn der Rechtsanwalt bei pflichtgemäßer Notierung einer Vorfrist die Fehlerhaftigkeit der notierten Frist hätte erkennen und die Frist wahren können (BGH v. 13.9.2018 - V ZB 227/17).
Der Wiedereinsetzungsantrag der Beklagten enthält keine aus sich heraus verständliche, geschlossene Schilderung der tatsächlichen Abläufe, die nach den vorstehenden Maßstäben ein fehlendes Verschulden ihres Prozessbevollmächtigten annehmen ließen. Er lässt weder erkennen, ob im Rahmen der Büroorganisation eine allgemeine Anordnung zur Eintragung von Vorfristen getroffen war, noch wie eine solche Anweisung im konkreten Fall beachtet worden ist.
Wäre pflichtgemäß eine angemessene Vorfrist von etwa einer Woche vor dem notierten Ablauf der Rechtsmittelbegründungsfrist in den Fristenkalender eingetragen worden, so wäre die Akte dem Prozessbevollmächtigten etwa am 21.10.2022, spätestens aber am 24.10.2022 vorgelegt worden. Anlässlich dieser Vorlage hätte der Prozessbevollmächtigte anhand der in der Handakte angebrachten Vermerke feststellen müssen, dass der Fristablauf durch die Kanzleiangestellte auf den 21.10.2022 notiert worden war. Bei ihm obliegender eigenverantwortlicher Prüfung der Frist anlässlich der Aktenvorlage an ihn hätte er feststellen müssen, dass die Frist tatsächlich am 24.10.2022 ablief. Es hätte dann in seiner Verantwortung gelegen, die Berufung rechtzeitig noch innerhalb der Frist zu begründen oder einen rechtzeitigen Fristverlängerungsantrag zu stellen.
Das Wiedereinsetzungsgesuch lässt jedoch offen, ob und auf welches Datum eine Vorfrist im Fristenkalender notiert war, wann dem Prozessbevollmächtigten die Akte tatsächlich vorgelegt worden ist und weshalb der Prozessbevollmächtigte anlässlich der Aktenvorlage an ihn die Frist nicht selbstständig berechnet hat. Damit ist fehlendes Verschulden bei der Fristversäumung nicht ausreichend dargelegt.
Mehr zum Thema:
Rechtsprechung:
Wiedereinsetzung: Unterbliebene Eintragung einer Vorfrist
BGH vom 20.9.2022 - VI ZB 17/22
MDR 2023, 123
Rechtsprechung:
Anwaltliche Prüfung der Rechtsmittelfristen bei Aktenvorlage
BGH vom 19.10.2022 - XII ZB 113/21
Wera Ahn-Roth, FamRB 2023, 108
Beratermodul Zöller Zivilprozessrecht:
Die perfekte Basisausstattung zum Zivilprozessrecht finden Praktiker in diesem Modul. Mit neuen Kommentierungen zu digitalen Themen und topaktuellen Annotationen zu Gesetzesänderungen und wichtiger neuer Rechtsprechung. 4 Wochen gratis nutzen!
BGH online
In dem Verfahren um Ansprüche aus einem Mietverhältnis wurde dem Prozessbevollmächtigten der Beklagten der richterliche Hinweis erteilt, dass der Fristverlängerungsantrag für die Berufungsbegründungsfrist verspätet gestellt worden sei. Die Beklagte beantragte daraufhin Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die versäumte Berufungsbegründungsfrist. Die in der Kanzlei tätige Rechtsanwaltsfachangestellte habe auf dem zugestellten erstinstanzlichen Urteil den 21.10.2022 als Berufungsbegründungsfrist notiert, aufgrund eines erstmaligen Fehlers jedoch in den händisch geführten Fristenkalender versehentlich den 28.10.2022 als Berufungsbegründungsfrist eingetragen. Der Beklagtenvertreter habe die handschriftlich auf der Urteilsabschrift notierte Fristberechnung auf ihre Richtigkeit kontrolliert und sei hinsichtlich der Übertragung in den Fristenkalender von einer korrekten Übertragung ausgegangen.
Das OLG wies den Wiedereinsetzungsantrag zurück und verwarf die Berufung als unzulässig. Der BGH hat die hiergegen eingelegte Rechtsbeschwerde verworfen.
Die Gründe:
Entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerde sind die Voraussetzungen für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht erfüllt. Denn die Beklagte hat die Berufungsbegründungsfrist nicht unverschuldet iSv § 233 Satz 1 ZPO versäumt. Vielmehr beruht das Versäumnis auf einem Verschulden ihres Prozessbevollmächtigten, welches sie sich nach § 85 Abs. 2 ZPO zurechnen lassen muss.
Die Sorgfaltspflicht in Fristsachen verlangt von einem Rechtsanwalt alles ihm Zumutbare, um die Wahrung von Rechtsmittelfristen zu gewährleisten. Dabei kann die Berechnung und Notierung von Fristen einer gut ausgebildeten, als zuverlässig erprobten und sorgfältig überwachten Bürokraft übertragen werden. Dann hat der Rechtsanwalt aber durch geeignete organisatorische Maßnahmen sicherzustellen, dass die Fristen zuverlässig festgehalten und kontrolliert werden. Zu den zur Ermöglichung einer Gegenkontrolle erforderlichen Vorkehrungen im Rahmen der Fristenkontrolle gehört insbesondere, dass die Rechtsmittelfristen in der Handakte notiert werden und die Handakte durch entsprechende Erledigungsvermerke oder auf sonstige Weise erkennen lässt, dass die Fristen in den Fristenkalender eingetragen worden sind (BGH v. 19.10.2022 - XII ZB 113/21).
Darüber hinaus hat ein Rechtsanwalt nach ständiger Rechtsprechung des BGH den Ablauf von Rechtsmittelbegründungsfristen immer dann eigenverantwortlich zu prüfen, wenn ihm die Akten im Zusammenhang mit einer fristgebundenen Verfahrenshandlung, insbesondere zu deren Bearbeitung, vorgelegt werden. Der Rechtsanwalt muss in diesem Fall auch alle weiteren unerledigten Fristen einschließlich ihrer Notierung in den Handakten prüfen.
Die Einhaltung einer Rechtsmittelbegründungsfrist ist ferner nicht nur durch die Eintragung der Hauptfrist, sondern zusätzlich durch eine ausreichende Vorfrist sicherzustellen. Die Vorfrist dient dazu, dass auch für den Fall von Unregelmäßigkeiten und Zwischenfällen noch eine ausreichende Überprüfungs- und Bearbeitungszeit bis zum Ablauf der zu wahrenden Frist verbleibt. Eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der zu wahrenden Frist kommt nicht in Betracht, wenn der Rechtsanwalt bei pflichtgemäßer Notierung einer Vorfrist die Fehlerhaftigkeit der notierten Frist hätte erkennen und die Frist wahren können (BGH v. 13.9.2018 - V ZB 227/17).
Der Wiedereinsetzungsantrag der Beklagten enthält keine aus sich heraus verständliche, geschlossene Schilderung der tatsächlichen Abläufe, die nach den vorstehenden Maßstäben ein fehlendes Verschulden ihres Prozessbevollmächtigten annehmen ließen. Er lässt weder erkennen, ob im Rahmen der Büroorganisation eine allgemeine Anordnung zur Eintragung von Vorfristen getroffen war, noch wie eine solche Anweisung im konkreten Fall beachtet worden ist.
Wäre pflichtgemäß eine angemessene Vorfrist von etwa einer Woche vor dem notierten Ablauf der Rechtsmittelbegründungsfrist in den Fristenkalender eingetragen worden, so wäre die Akte dem Prozessbevollmächtigten etwa am 21.10.2022, spätestens aber am 24.10.2022 vorgelegt worden. Anlässlich dieser Vorlage hätte der Prozessbevollmächtigte anhand der in der Handakte angebrachten Vermerke feststellen müssen, dass der Fristablauf durch die Kanzleiangestellte auf den 21.10.2022 notiert worden war. Bei ihm obliegender eigenverantwortlicher Prüfung der Frist anlässlich der Aktenvorlage an ihn hätte er feststellen müssen, dass die Frist tatsächlich am 24.10.2022 ablief. Es hätte dann in seiner Verantwortung gelegen, die Berufung rechtzeitig noch innerhalb der Frist zu begründen oder einen rechtzeitigen Fristverlängerungsantrag zu stellen.
Das Wiedereinsetzungsgesuch lässt jedoch offen, ob und auf welches Datum eine Vorfrist im Fristenkalender notiert war, wann dem Prozessbevollmächtigten die Akte tatsächlich vorgelegt worden ist und weshalb der Prozessbevollmächtigte anlässlich der Aktenvorlage an ihn die Frist nicht selbstständig berechnet hat. Damit ist fehlendes Verschulden bei der Fristversäumung nicht ausreichend dargelegt.
Rechtsprechung:
Wiedereinsetzung: Unterbliebene Eintragung einer Vorfrist
BGH vom 20.9.2022 - VI ZB 17/22
MDR 2023, 123
Rechtsprechung:
Anwaltliche Prüfung der Rechtsmittelfristen bei Aktenvorlage
BGH vom 19.10.2022 - XII ZB 113/21
Wera Ahn-Roth, FamRB 2023, 108
Beratermodul Zöller Zivilprozessrecht:
Die perfekte Basisausstattung zum Zivilprozessrecht finden Praktiker in diesem Modul. Mit neuen Kommentierungen zu digitalen Themen und topaktuellen Annotationen zu Gesetzesänderungen und wichtiger neuer Rechtsprechung. 4 Wochen gratis nutzen!