Elementare Aufgaben einer Hebamme bei Blutungen
OLG Rostock v. 5.11.2021 - 5 U 119/13
Der Sachverhalt:
Die Mutter des Klägers war in der 40. Schwangerschaftswoche als im Oktober 2007 um 2:55 Uhr in der beklagten Klinik (Beklagte zu1) eintraf. Weder über Wehen noch über Schmerzen klagend äußerte sie die Vermutung eines Blasensprungs mit Flüssigkeitsabgang. Weitere Angaben der Kindesmutter gegenüber der dort angestellten Hebamme (Beklagte zu 2), die sie schon vor dessen Geburt betreut hatte, sind zwischen den Parteien streitig. Um 2:57 Uhr legte die Beklagte zu 2) der Kindesmutter ein CTG an. Voruntersuchungen bzw. eine vaginale Untersuchung nahm sie nicht vor.
Das CTG zeigte leichte unregelmäßige Wehen und Auffälligkeiten mit Herztonabfällen. Wegen weiterhin bestehender Herztonabfälle rief die Beklagte zu 2) um 3:15 Uhr die Gynäkologin Dr. G. hinzu, die um 3:18 Uhr im Kreißsaal erschien. Die Kindesmutter gab gegenüber der Ärztin vaginale Blutungen an. Bei der vaginalen Untersuchung zeigte sich ein geschlossener Muttermund und eine Blutung. Nach einer Ultraschalluntersuchung löste Dr. G. wegen des Verdachts auf eine Plazentaablösung um 3:26 Uhr den Alarm für einen Notkaiserschnitt aus.
Um 3:34 Uhr wurde das Kind entbunden. Der Säugling litt unter einer Sauerstoffunterversorgung, hatte eine Herzfrequenz von 40/min und es lag ein akutes Nierenversagen vor. Nach erfolgter Reanimation wurde er drei Stunden später in die Universitätsklinik verlegt. Der Umfang der Gesundheitsschäden des Klägers ist streitig. Die Kindsmutter hat behauptet, sie habe bereits beim Eintreffen im Krankenhaus auf starke Blutungen und auch darauf hingewiesen, dass sie nicht wisse, ob die Fruchtblase geplatzt sei. Sie habe mitgeteilt, viel Blut und Blutstücke verloren zu haben. Schon aufgrund dieser Mitteilungen habe die Beklagte zu 2) von einem geburtshilflichen Notfall ausgehen müssen, der umgehend ausgeschlossen bzw. bewiesen gehöre.
Das LG hat die Klage mit der Begründung abgewiesen, dass ein Behandlungsfehler der Beklagten nicht bewiesen sei. Der Sachverständige habe die Notwendigkeit einer früheren Entscheidung zur Notsectio nicht bestätigt. Auf die Berufung des klagenden Kindes hat das OLG das Urteil aufgehoben und die Beklagten gem. §§ 823 Abs. 1, 831 BGB als Gesamtschuldner u.a. zur Zahlung eines Schmerzensgeldes i.H.v. 300.000 € verurteilt.
Die Gründe:
Der Beklagten zu 2) ist ein Behandlungsfehler in Form eines Befunderhebungsfehlers vorzuwerfen, da sie die ihr mitgeteilte Blutung nicht kontrolliert und deshalb die diensthabende Ärztin statt bereits um 3:05 Uhr, erst um 3:15 Uhr, mithin 10 min zu spät informiert hat. Sie war verpflichtet, aufgrund der ihr mitgeteilten Blutung die Vorlage zu kontrollieren, da nach den 2001 vom Hauptausschuss des Bundes Deutscher Hebammen verabschiedeten Empfehlungen zur Zusammenarbeit von Hebamme und Ärztin/Arzt in der Geburtshilfe entsprechend den Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (DGGG) u.a. bei pathologischem CTG sowie bei Blutungen unter der Geburt die unverzügliche Präsenz nicht nur eines Arztes schlechthin, sondern eines geburtshilflich erfahrenen Arztes oder sogar des Oberarztes sichergestellt sein muss. Zu den elementaren Aufgaben einer Hebamme gehört es somit, Regelwidrigkeiten bei der Geburt zu erkennen und bei pathologischen Auffälligkeiten einen Arzt hinzuzuziehen. Erfährt sie, dass es bei der Schwangeren zu Blutungen gekommen ist, stellt es einen groben Befunderhebungsfehler dar, wenn sie zu spät die Vorlage kontrolliert.
Zwar haben Leitlinien und Empfehlungen ärztlicher Fachgremien oder Verbände keine konstitutive Wirkung und können nicht unbesehen als Maßstab für den gebotenen medizinischen Standard übernommen werden (vgl. BGH-Urt. v. 15.4.2014 - VI ZR 382/12). Gleichwohl stellen solche Leitlinien und Empfehlungen einen Wegweiser für den medizinischen Standard dar. Sie geben regelmäßig den anerkannten und gesicherten Stand der medizinischen Wissenschaft oder die Überzeugung maßgeblicher ärztlicher Kreise von der Richtigkeit einer bestimmten Behandlung wieder. Eine Abweichung von solchen Leitlinien und Empfehlungen bedarf daher einer besonderen Begründung.
Steht fest, dass eine medizinisch erforderliche Befunderhebung unterlassen wurde, wird zugunsten des Patienten vermutet, dass der fragliche Befund ein aus medizinischer Sicht reaktionspflichtiges Ergebnis gehabt hätte, wenn letzteres hinreichend wahrscheinlich ist. So liegt der Fall auch hier. Die Angabe in dem auch von der Beklagten zu 2) unterzeichneten Gedächtnisprotokoll, dass um 3:20 Uhr eine Blutung vorlag, rechtfertigt den Schluss, dass die Beklagte zu 2) diese Feststellung bereits zu dem Zeitpunkt getroffen hätte, zu dem sie die Vorlage hätte kontrollieren müssen, mithin bereits gegen 3:02 Uhr.
In Würdigung der Gesamtsituation des Kindes, dessen durch den Geburtsschaden erlittenen dauerhaften Beeinträchtigungen nur durch eine ständige Betreuung und Hilfe Dritter kompensiert, aber nicht gebessert werden können und die ihm ein eigenständiges Leben unmöglich machen, hält der Senat auch mit Blick auf Entscheidungen anderer OLG zu vergleichbaren Fällen (vgl. etwa OLG Hamm, Urteil v. 17.3.2015 - I-26 U 108/13; OLG Koblenz, Urteil v. 26.2.2009 - 5 U 1212/07) ein Schmerzensgeld i.H.v. 300.000 € für angemessen.
Linkhinweis:
Den Volltext der Entscheidung finden Sie in der Datenbank Otto Schmidt online.
Landesrecht M-V
Die Mutter des Klägers war in der 40. Schwangerschaftswoche als im Oktober 2007 um 2:55 Uhr in der beklagten Klinik (Beklagte zu1) eintraf. Weder über Wehen noch über Schmerzen klagend äußerte sie die Vermutung eines Blasensprungs mit Flüssigkeitsabgang. Weitere Angaben der Kindesmutter gegenüber der dort angestellten Hebamme (Beklagte zu 2), die sie schon vor dessen Geburt betreut hatte, sind zwischen den Parteien streitig. Um 2:57 Uhr legte die Beklagte zu 2) der Kindesmutter ein CTG an. Voruntersuchungen bzw. eine vaginale Untersuchung nahm sie nicht vor.
Das CTG zeigte leichte unregelmäßige Wehen und Auffälligkeiten mit Herztonabfällen. Wegen weiterhin bestehender Herztonabfälle rief die Beklagte zu 2) um 3:15 Uhr die Gynäkologin Dr. G. hinzu, die um 3:18 Uhr im Kreißsaal erschien. Die Kindesmutter gab gegenüber der Ärztin vaginale Blutungen an. Bei der vaginalen Untersuchung zeigte sich ein geschlossener Muttermund und eine Blutung. Nach einer Ultraschalluntersuchung löste Dr. G. wegen des Verdachts auf eine Plazentaablösung um 3:26 Uhr den Alarm für einen Notkaiserschnitt aus.
Um 3:34 Uhr wurde das Kind entbunden. Der Säugling litt unter einer Sauerstoffunterversorgung, hatte eine Herzfrequenz von 40/min und es lag ein akutes Nierenversagen vor. Nach erfolgter Reanimation wurde er drei Stunden später in die Universitätsklinik verlegt. Der Umfang der Gesundheitsschäden des Klägers ist streitig. Die Kindsmutter hat behauptet, sie habe bereits beim Eintreffen im Krankenhaus auf starke Blutungen und auch darauf hingewiesen, dass sie nicht wisse, ob die Fruchtblase geplatzt sei. Sie habe mitgeteilt, viel Blut und Blutstücke verloren zu haben. Schon aufgrund dieser Mitteilungen habe die Beklagte zu 2) von einem geburtshilflichen Notfall ausgehen müssen, der umgehend ausgeschlossen bzw. bewiesen gehöre.
Das LG hat die Klage mit der Begründung abgewiesen, dass ein Behandlungsfehler der Beklagten nicht bewiesen sei. Der Sachverständige habe die Notwendigkeit einer früheren Entscheidung zur Notsectio nicht bestätigt. Auf die Berufung des klagenden Kindes hat das OLG das Urteil aufgehoben und die Beklagten gem. §§ 823 Abs. 1, 831 BGB als Gesamtschuldner u.a. zur Zahlung eines Schmerzensgeldes i.H.v. 300.000 € verurteilt.
Die Gründe:
Der Beklagten zu 2) ist ein Behandlungsfehler in Form eines Befunderhebungsfehlers vorzuwerfen, da sie die ihr mitgeteilte Blutung nicht kontrolliert und deshalb die diensthabende Ärztin statt bereits um 3:05 Uhr, erst um 3:15 Uhr, mithin 10 min zu spät informiert hat. Sie war verpflichtet, aufgrund der ihr mitgeteilten Blutung die Vorlage zu kontrollieren, da nach den 2001 vom Hauptausschuss des Bundes Deutscher Hebammen verabschiedeten Empfehlungen zur Zusammenarbeit von Hebamme und Ärztin/Arzt in der Geburtshilfe entsprechend den Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (DGGG) u.a. bei pathologischem CTG sowie bei Blutungen unter der Geburt die unverzügliche Präsenz nicht nur eines Arztes schlechthin, sondern eines geburtshilflich erfahrenen Arztes oder sogar des Oberarztes sichergestellt sein muss. Zu den elementaren Aufgaben einer Hebamme gehört es somit, Regelwidrigkeiten bei der Geburt zu erkennen und bei pathologischen Auffälligkeiten einen Arzt hinzuzuziehen. Erfährt sie, dass es bei der Schwangeren zu Blutungen gekommen ist, stellt es einen groben Befunderhebungsfehler dar, wenn sie zu spät die Vorlage kontrolliert.
Zwar haben Leitlinien und Empfehlungen ärztlicher Fachgremien oder Verbände keine konstitutive Wirkung und können nicht unbesehen als Maßstab für den gebotenen medizinischen Standard übernommen werden (vgl. BGH-Urt. v. 15.4.2014 - VI ZR 382/12). Gleichwohl stellen solche Leitlinien und Empfehlungen einen Wegweiser für den medizinischen Standard dar. Sie geben regelmäßig den anerkannten und gesicherten Stand der medizinischen Wissenschaft oder die Überzeugung maßgeblicher ärztlicher Kreise von der Richtigkeit einer bestimmten Behandlung wieder. Eine Abweichung von solchen Leitlinien und Empfehlungen bedarf daher einer besonderen Begründung.
Steht fest, dass eine medizinisch erforderliche Befunderhebung unterlassen wurde, wird zugunsten des Patienten vermutet, dass der fragliche Befund ein aus medizinischer Sicht reaktionspflichtiges Ergebnis gehabt hätte, wenn letzteres hinreichend wahrscheinlich ist. So liegt der Fall auch hier. Die Angabe in dem auch von der Beklagten zu 2) unterzeichneten Gedächtnisprotokoll, dass um 3:20 Uhr eine Blutung vorlag, rechtfertigt den Schluss, dass die Beklagte zu 2) diese Feststellung bereits zu dem Zeitpunkt getroffen hätte, zu dem sie die Vorlage hätte kontrollieren müssen, mithin bereits gegen 3:02 Uhr.
In Würdigung der Gesamtsituation des Kindes, dessen durch den Geburtsschaden erlittenen dauerhaften Beeinträchtigungen nur durch eine ständige Betreuung und Hilfe Dritter kompensiert, aber nicht gebessert werden können und die ihm ein eigenständiges Leben unmöglich machen, hält der Senat auch mit Blick auf Entscheidungen anderer OLG zu vergleichbaren Fällen (vgl. etwa OLG Hamm, Urteil v. 17.3.2015 - I-26 U 108/13; OLG Koblenz, Urteil v. 26.2.2009 - 5 U 1212/07) ein Schmerzensgeld i.H.v. 300.000 € für angemessen.
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Den Volltext der Entscheidung finden Sie in der Datenbank Otto Schmidt online.