Elternunterhalt: Verwirkung des Auskunftsanspruchs eines Sozialleistungsträgers?
OLG Hamm v. 4.9.2023 - 4 UF 164/22
Der Sachverhalt:
Die Mutter des Antragsgegners 2017 im Alter von 64 Jahren in ein Pflegeheim gezogen, dessen teilweise ungedeckten Kosten seit dem 1.2.2017 nach Darstellung des Antragstellers von ihm getragen werden. Eine Rechtswahrungsanzeige mit Auskunftsverlangen seitens des Antragstellers aus Mai 2017 lehnte der Antragsgegner unter Hinweis auf § 1611 BGB ab. Einem erneuten Auskunftsverlangen im Februar 2018 widersprach er.
Mit Schreiben vom 2.5.2018 bezifferte der Antragsteller sein Unterhaltsverlangen, nachdem er über das Finanzamt die zu versteuernden Einkünfte des Antragsgegners ermittelt hatte. Aus den Steuerunterlagen ermittelte der Antragsteller einen Unterhaltsanspruch der Mutter i.H.v. monatlich 10.114 €. Da die Mutter nur Hilfe zur Pflege in einer Einrichtung i.H.v. 1.917 € erhalte, sei dieser Betrag maximal zu leisten. Für den Zeitraum vom 1.4.2017 bis zum 31.5.2018 forderte der Antragsteller eine Nachzahlung i.H.v. 25.858 €.
Der Antragsgegner lehnte eine Zahlung unter Hinweis auf eine unzulässige Nutzung der Finanzamtsdaten. Der Antragsteller war der Ansicht, der geltend gemachte Auskunftsstufenantrag stehe ihm zu, auch wenn der Antragsgegner sich auf Verwirkung berufe. Der Antragsgegner war der Auffassung, der Unterhaltsanspruch sei aus zweierlei Gründen verwirkt. Zum einen nach § 1611 BGB, da die Mutter ihre eigene Unterhaltspflicht ihm gegenüber gröblich vernachlässigt und sich vorsätzlich einer schweren Verfehlung ihm gegenüber schuldig gemacht habe. Zum anderen nach § 242 BGB, da er nach der langen Zeit der Untätigkeit des Antragstellers nicht mehr mit einer Inanspruchnahme habe rechnen müssen.
Im Termin am 4.8.2022 hat der Antragsteller den Antrag auf Auskunft für den Zeitraum vom 1.1.2017 bis zum 31.12.2021, geltend gemacht. Das Familiengericht hat den gesamten Auskunftsstufenantrag abgewiesen und zur Begründung ausgeführt, der Stufenantrag sei unbegründet, da der Unterhaltsanspruch insgesamt gem. § 1611 BGB verwirkt sei. Die hiergegen gerichtete Beschwerde des Antragstellers war vor dem OLG weitestgehend erfolgreich.
Die Gründe:
Dem Antragsteller steht der nunmehr noch geltend gemachte Auskunftsanspruch für die Zeit ab 2018 zu. Der Anspruch für 2017 ist offensichtlich verjährt.
Entgegen der Auffassung des Familiengerichts konnte die Abweisung des Auskunftsantrages nicht auf eine Verwirkung nach § 1611 BGB gestützt werden. Denn der Einwand der Verwirkung des Unterhaltsanspruchs steht dem Auskunftsanspruch nach BGH-Rechtsprechung, der sich der Senat anschließt, regelmäßig nicht entgegen, da die Beurteilung, ob und in welchem Umfang der Unterhaltsanspruch verwirkt ist, sich ohne Kenntnis der maßgeblichen Einkünfte nicht beurteilen lässt und sachgerecht hierrüber erst befunden werden kann, wenn die Höhe des Unterhaltsanspruchs festgestellt ist. Vorliegend war auch keine Ausnahme ersichtlich. Der Vortrag des Antragsgegners hinsichtlich der behaupteten Vernachlässigung durch die Mutter war unsubstantiiert.
Der geltend gemachte Unterhaltsanspruch war auch nicht nach § 242 BGB verwirkt. Eine Verwirkung des Anspruchs auf rückständigen Elternunterhalt kommt nach allgemeinen Grundsätzen gem. § 242 BGB in Betracht, wenn der Berechtigte den Anspruch längere Zeit nicht geltend gemacht hat (Zeitmoment), obwohl er dazu in der Lage wäre, und der Verpflichtete sich mit Rücksicht auf das gesamte Verhalten des Berechtigten darauf einrichten durfte und eingerichtet hat, dass dieser sein Recht auch in Zukunft nicht geltend machen werde (Umstandsmoment).
Dabei sind für Unterhaltsansprüche an das Zeitmoment der Verwirkung keine strengen Anforderungen zu stellen, denn Unterhaltsrückstände können zu einer erdrückenden Schuldenlast anwachsen und die für die Bemessung des Unterhalts maßgeblichen Einkommensverhältnisse der Parteien sind nach längerer Zeit oft nur schwer aufklärbar. Diese Gründe, die eine möglichst zeitnahe Geltendmachung von Unterhalt nahelegen, sind so gewichtig, dass das Zeitmoment der Verwirkung auch dann erfüllt sein kann, wenn die Rückstände Zeitabschnitte betreffen, die nur etwas mehr als ein Jahr zurückliegen. Macht der Sozialleistungsträger - wie hier - Ansprüche aus übergegangenem Recht geltend, führt dies zu keiner anderen Beurteilung, weil der Anspruchsübergang dessen Natur, Inhalt und Umfang nicht verändert.
Während der BGH vormals primär auf das Zeitmoment abgestellt hat, betont er nunmehr in den neueren Entscheidungen deutlicher als zuvor das Umstandsmoment. Der Vertrauenstatbestand könne nicht durch bloßen Zeitablauf geschaffen werden. Somit könne ein bloßes Unterlassen der Geltendmachung des Anspruchs für sich genommen kein berechtigtes Vertrauen des Schuldners auslösen. Dies gelte nicht nur für eine bloße Untätigkeit des Gläubigers, sondern grundsätzlich auch für die von diesem unterlassene Fortsetzung einer bereits begonnenen Geltendmachung. Auch wenn der Gläubiger davon absehe, sein Recht weiter zu verfolgen, könne dies für den Schuldner nur dann berechtigterweise Vertrauen auf eine Nichtgeltendmachung hervorrufen, wenn das Verhalten des Gläubigers Grund zu der Annahme gebe, der Unterhaltsberechtigte werde den Unterhaltsanspruch nicht mehr geltend machen, insbesondere weil er seinen Rechtsstandpunkt aufgegeben habe.
Allein die sicherlich zögerliche Geltendmachung des Anspruchs konnte hier für sich genommen keinen Vertrauenstatbestand schaffen. Das Verhalten des Antragstellers gab aus Sicht des Senats auch keinen Grund zu der Annahme, der Anspruch werde nicht mehr geltend gemacht.
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Justiz NRW
Die Mutter des Antragsgegners 2017 im Alter von 64 Jahren in ein Pflegeheim gezogen, dessen teilweise ungedeckten Kosten seit dem 1.2.2017 nach Darstellung des Antragstellers von ihm getragen werden. Eine Rechtswahrungsanzeige mit Auskunftsverlangen seitens des Antragstellers aus Mai 2017 lehnte der Antragsgegner unter Hinweis auf § 1611 BGB ab. Einem erneuten Auskunftsverlangen im Februar 2018 widersprach er.
Mit Schreiben vom 2.5.2018 bezifferte der Antragsteller sein Unterhaltsverlangen, nachdem er über das Finanzamt die zu versteuernden Einkünfte des Antragsgegners ermittelt hatte. Aus den Steuerunterlagen ermittelte der Antragsteller einen Unterhaltsanspruch der Mutter i.H.v. monatlich 10.114 €. Da die Mutter nur Hilfe zur Pflege in einer Einrichtung i.H.v. 1.917 € erhalte, sei dieser Betrag maximal zu leisten. Für den Zeitraum vom 1.4.2017 bis zum 31.5.2018 forderte der Antragsteller eine Nachzahlung i.H.v. 25.858 €.
Der Antragsgegner lehnte eine Zahlung unter Hinweis auf eine unzulässige Nutzung der Finanzamtsdaten. Der Antragsteller war der Ansicht, der geltend gemachte Auskunftsstufenantrag stehe ihm zu, auch wenn der Antragsgegner sich auf Verwirkung berufe. Der Antragsgegner war der Auffassung, der Unterhaltsanspruch sei aus zweierlei Gründen verwirkt. Zum einen nach § 1611 BGB, da die Mutter ihre eigene Unterhaltspflicht ihm gegenüber gröblich vernachlässigt und sich vorsätzlich einer schweren Verfehlung ihm gegenüber schuldig gemacht habe. Zum anderen nach § 242 BGB, da er nach der langen Zeit der Untätigkeit des Antragstellers nicht mehr mit einer Inanspruchnahme habe rechnen müssen.
Im Termin am 4.8.2022 hat der Antragsteller den Antrag auf Auskunft für den Zeitraum vom 1.1.2017 bis zum 31.12.2021, geltend gemacht. Das Familiengericht hat den gesamten Auskunftsstufenantrag abgewiesen und zur Begründung ausgeführt, der Stufenantrag sei unbegründet, da der Unterhaltsanspruch insgesamt gem. § 1611 BGB verwirkt sei. Die hiergegen gerichtete Beschwerde des Antragstellers war vor dem OLG weitestgehend erfolgreich.
Die Gründe:
Dem Antragsteller steht der nunmehr noch geltend gemachte Auskunftsanspruch für die Zeit ab 2018 zu. Der Anspruch für 2017 ist offensichtlich verjährt.
Entgegen der Auffassung des Familiengerichts konnte die Abweisung des Auskunftsantrages nicht auf eine Verwirkung nach § 1611 BGB gestützt werden. Denn der Einwand der Verwirkung des Unterhaltsanspruchs steht dem Auskunftsanspruch nach BGH-Rechtsprechung, der sich der Senat anschließt, regelmäßig nicht entgegen, da die Beurteilung, ob und in welchem Umfang der Unterhaltsanspruch verwirkt ist, sich ohne Kenntnis der maßgeblichen Einkünfte nicht beurteilen lässt und sachgerecht hierrüber erst befunden werden kann, wenn die Höhe des Unterhaltsanspruchs festgestellt ist. Vorliegend war auch keine Ausnahme ersichtlich. Der Vortrag des Antragsgegners hinsichtlich der behaupteten Vernachlässigung durch die Mutter war unsubstantiiert.
Der geltend gemachte Unterhaltsanspruch war auch nicht nach § 242 BGB verwirkt. Eine Verwirkung des Anspruchs auf rückständigen Elternunterhalt kommt nach allgemeinen Grundsätzen gem. § 242 BGB in Betracht, wenn der Berechtigte den Anspruch längere Zeit nicht geltend gemacht hat (Zeitmoment), obwohl er dazu in der Lage wäre, und der Verpflichtete sich mit Rücksicht auf das gesamte Verhalten des Berechtigten darauf einrichten durfte und eingerichtet hat, dass dieser sein Recht auch in Zukunft nicht geltend machen werde (Umstandsmoment).
Dabei sind für Unterhaltsansprüche an das Zeitmoment der Verwirkung keine strengen Anforderungen zu stellen, denn Unterhaltsrückstände können zu einer erdrückenden Schuldenlast anwachsen und die für die Bemessung des Unterhalts maßgeblichen Einkommensverhältnisse der Parteien sind nach längerer Zeit oft nur schwer aufklärbar. Diese Gründe, die eine möglichst zeitnahe Geltendmachung von Unterhalt nahelegen, sind so gewichtig, dass das Zeitmoment der Verwirkung auch dann erfüllt sein kann, wenn die Rückstände Zeitabschnitte betreffen, die nur etwas mehr als ein Jahr zurückliegen. Macht der Sozialleistungsträger - wie hier - Ansprüche aus übergegangenem Recht geltend, führt dies zu keiner anderen Beurteilung, weil der Anspruchsübergang dessen Natur, Inhalt und Umfang nicht verändert.
Während der BGH vormals primär auf das Zeitmoment abgestellt hat, betont er nunmehr in den neueren Entscheidungen deutlicher als zuvor das Umstandsmoment. Der Vertrauenstatbestand könne nicht durch bloßen Zeitablauf geschaffen werden. Somit könne ein bloßes Unterlassen der Geltendmachung des Anspruchs für sich genommen kein berechtigtes Vertrauen des Schuldners auslösen. Dies gelte nicht nur für eine bloße Untätigkeit des Gläubigers, sondern grundsätzlich auch für die von diesem unterlassene Fortsetzung einer bereits begonnenen Geltendmachung. Auch wenn der Gläubiger davon absehe, sein Recht weiter zu verfolgen, könne dies für den Schuldner nur dann berechtigterweise Vertrauen auf eine Nichtgeltendmachung hervorrufen, wenn das Verhalten des Gläubigers Grund zu der Annahme gebe, der Unterhaltsberechtigte werde den Unterhaltsanspruch nicht mehr geltend machen, insbesondere weil er seinen Rechtsstandpunkt aufgegeben habe.
Allein die sicherlich zögerliche Geltendmachung des Anspruchs konnte hier für sich genommen keinen Vertrauenstatbestand schaffen. Das Verhalten des Antragstellers gab aus Sicht des Senats auch keinen Grund zu der Annahme, der Anspruch werde nicht mehr geltend gemacht.
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