Erfasst der Begriff "Erdrutsch" auch langsame Erdbewegungen?
BGH v. 9.11.2022 - IV ZR 62/22
Der Sachverhalt:
Der Kläger hatte bei der Beklagten eine Wohngebäudeversicherung abgeschlossen, der u.a. Wohngebäudeversicherungsbedingungen (WGB F 01/08) sowie Klauseln zu den WGB F 01/08 zugrunde lagen. Der Versicherungsschutz erstreckte sich auf Schäden durch weitere Elementargefahren, u.a. Erdrutsch. Dazu bestimmten die Klauseln zu den WGB F 01/08 in K.7:
"Erdrutsch ist ein naturbedingtes Abgleiten oder Abstürzen von Gesteins- oder Erdmassen."
Das versicherte Grundstück des Klägers liegt am vorderen Rand einer vor etwa 80 Jahren am Hang aufgeschütteten Terrasse. Im Jahr 2018 zeigte der Kläger bei der Beklagten Schäden in Form von Rissbildungen an seinem Wohnhaus und auf der zugehörigen Terrasse an. Eine Übernahme der Kosten für die Beseitigung der Schäden lehnte die Beklagte damals ab.
Der Kläger behauptete, die Schäden seien einzig mit einem Erdrutsch erklärbar. Sie seien durch nicht augenscheinliche Rutschungen des Untergrunds von wenigen Zentimetern pro Jahr verursacht. Für die Rissinstandsetzung und Malerarbeiten seien geschätzte Aufwendungen i.H.v. 20.000 €, für die gesamte Beseitigung der Schäden Kosten im Bereich von insgesamt 100.000 € zu erwarten. Diese geschätzten Kosten verlangte der Kläger als Vorschuss; ferner begehrte er die Feststellung der Verpflichtung der Beklagten zur Erstattung aller weiteren versicherten Schäden sowie Freistellung von vorgerichtlichen Anwaltskosten.
LG und OLG haben die Klage abgewiesen. Auf die Revision des Klägers hat der BGH das Berufungsurteil aufgehoben und die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das OLG zurückverwiesen.
Gründe:
Der Begriff "Erdrutsch" i.S.d. Bestimmung in K.7 der Klauseln zu den WGB F 01/08 erfasst auch Schäden am Versicherungsobjekt, die durch allmähliche, nicht augenscheinliche naturbedingte Bewegungen von Gesteins- oder Erdmassen verursacht werden. Allerdings ist in Rechtsprechung und Literatur streitig, ob in einer Elementarschadenversicherung bei einer Klauselfassung wie der vorliegenden die versicherte Gefahr "Erdrutsch" ein in einer solchen Geschwindigkeit ablaufendes Ereignis voraussetzt, dass die Bewegung des Erdreichs sinnlich wahrnehmbar ist, oder auch dann vorliegt, wenn sich Bodenbestandteile über einen länger andauernden Zeitraum unmerklich verlagern, mithin das Leistungsversprechen des Versicherers auch allmählich eintretende Schäden umfasst.
Die letztgenannte Auffassung trifft zu. Das ergibt die Auslegung der Klausel, deren Anwendung - anders als das Berufungsgericht meint - nicht auf plötzliche und sinnlich wahrnehmbare Vorgänge beschränkt ist. Allgemeine Versicherungsbedingungen sind nämlich so auszulegen, wie ein durchschnittlicher, um Verständnis bemühter Versicherungsnehmer sie bei verständiger Würdigung, aufmerksamer Durchsicht und unter Berücksichtigung des erkennbaren Sinnzusammenhangs versteht. Dabei kommt es auf die Verständnismöglichkeiten eines Versicherungsnehmers ohne versicherungsrechtliche Spezialkenntnisse und damit auch auf seine Interessen an. In erster Linie ist vom Bedingungswortlaut auszugehen. Der mit dem Bedingungswerk verfolgte Zweck und der Sinnzusammenhang der Klauseln sind zusätzlich zu berücksichtigen, soweit sie für den Versicherungsnehmer erkennbar sind.
Rechtsfehlerhaft war deshalb die Anknüpfung des Berufungsgerichts an die in der Geologie gebräuchliche Unterscheidung langfristig und langsam verlaufender Bewegungen von Erdmassen ohne ausgeprägte Gleitflächen von solchen, die eine Bewegung von Gleitflächen voraussetzen, und die fachliche Klassifizierung dieser Vorgänge als "Erdkriechen" und "Erdrutsch", die im Wortlaut der Bedingungen keinen Niederschlag findet. Ein durchschnittlicher Versicherungsnehmer wird vielmehr die hier maßgebliche Definition des Begriffs "Erdrutsch" zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen nehmen und erkennen, dass der versicherte Tatbestand mit einem naturbedingten Abgleiten oder Abstürzen von Gesteins- oder Erdmassen zwei unterschiedliche Vorgänge einschließt, denen zwar in der Variante des "Abstürzens" ein plötzliches Ereignis immanent ist, das aber in der Alternative des "Abgleitens", das nach allgemeinem Sprachgebrauch einen Haftungs- oder Haltverlust und eine unbeabsichtigte Bewegung seitwärts und nach unten umschreibt, gerade nicht gefordert wird.
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BGH online
Der Kläger hatte bei der Beklagten eine Wohngebäudeversicherung abgeschlossen, der u.a. Wohngebäudeversicherungsbedingungen (WGB F 01/08) sowie Klauseln zu den WGB F 01/08 zugrunde lagen. Der Versicherungsschutz erstreckte sich auf Schäden durch weitere Elementargefahren, u.a. Erdrutsch. Dazu bestimmten die Klauseln zu den WGB F 01/08 in K.7:
"Erdrutsch ist ein naturbedingtes Abgleiten oder Abstürzen von Gesteins- oder Erdmassen."
Das versicherte Grundstück des Klägers liegt am vorderen Rand einer vor etwa 80 Jahren am Hang aufgeschütteten Terrasse. Im Jahr 2018 zeigte der Kläger bei der Beklagten Schäden in Form von Rissbildungen an seinem Wohnhaus und auf der zugehörigen Terrasse an. Eine Übernahme der Kosten für die Beseitigung der Schäden lehnte die Beklagte damals ab.
Der Kläger behauptete, die Schäden seien einzig mit einem Erdrutsch erklärbar. Sie seien durch nicht augenscheinliche Rutschungen des Untergrunds von wenigen Zentimetern pro Jahr verursacht. Für die Rissinstandsetzung und Malerarbeiten seien geschätzte Aufwendungen i.H.v. 20.000 €, für die gesamte Beseitigung der Schäden Kosten im Bereich von insgesamt 100.000 € zu erwarten. Diese geschätzten Kosten verlangte der Kläger als Vorschuss; ferner begehrte er die Feststellung der Verpflichtung der Beklagten zur Erstattung aller weiteren versicherten Schäden sowie Freistellung von vorgerichtlichen Anwaltskosten.
LG und OLG haben die Klage abgewiesen. Auf die Revision des Klägers hat der BGH das Berufungsurteil aufgehoben und die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das OLG zurückverwiesen.
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Der Begriff "Erdrutsch" i.S.d. Bestimmung in K.7 der Klauseln zu den WGB F 01/08 erfasst auch Schäden am Versicherungsobjekt, die durch allmähliche, nicht augenscheinliche naturbedingte Bewegungen von Gesteins- oder Erdmassen verursacht werden. Allerdings ist in Rechtsprechung und Literatur streitig, ob in einer Elementarschadenversicherung bei einer Klauselfassung wie der vorliegenden die versicherte Gefahr "Erdrutsch" ein in einer solchen Geschwindigkeit ablaufendes Ereignis voraussetzt, dass die Bewegung des Erdreichs sinnlich wahrnehmbar ist, oder auch dann vorliegt, wenn sich Bodenbestandteile über einen länger andauernden Zeitraum unmerklich verlagern, mithin das Leistungsversprechen des Versicherers auch allmählich eintretende Schäden umfasst.
Die letztgenannte Auffassung trifft zu. Das ergibt die Auslegung der Klausel, deren Anwendung - anders als das Berufungsgericht meint - nicht auf plötzliche und sinnlich wahrnehmbare Vorgänge beschränkt ist. Allgemeine Versicherungsbedingungen sind nämlich so auszulegen, wie ein durchschnittlicher, um Verständnis bemühter Versicherungsnehmer sie bei verständiger Würdigung, aufmerksamer Durchsicht und unter Berücksichtigung des erkennbaren Sinnzusammenhangs versteht. Dabei kommt es auf die Verständnismöglichkeiten eines Versicherungsnehmers ohne versicherungsrechtliche Spezialkenntnisse und damit auch auf seine Interessen an. In erster Linie ist vom Bedingungswortlaut auszugehen. Der mit dem Bedingungswerk verfolgte Zweck und der Sinnzusammenhang der Klauseln sind zusätzlich zu berücksichtigen, soweit sie für den Versicherungsnehmer erkennbar sind.
Rechtsfehlerhaft war deshalb die Anknüpfung des Berufungsgerichts an die in der Geologie gebräuchliche Unterscheidung langfristig und langsam verlaufender Bewegungen von Erdmassen ohne ausgeprägte Gleitflächen von solchen, die eine Bewegung von Gleitflächen voraussetzen, und die fachliche Klassifizierung dieser Vorgänge als "Erdkriechen" und "Erdrutsch", die im Wortlaut der Bedingungen keinen Niederschlag findet. Ein durchschnittlicher Versicherungsnehmer wird vielmehr die hier maßgebliche Definition des Begriffs "Erdrutsch" zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen nehmen und erkennen, dass der versicherte Tatbestand mit einem naturbedingten Abgleiten oder Abstürzen von Gesteins- oder Erdmassen zwei unterschiedliche Vorgänge einschließt, denen zwar in der Variante des "Abstürzens" ein plötzliches Ereignis immanent ist, das aber in der Alternative des "Abgleitens", das nach allgemeinem Sprachgebrauch einen Haftungs- oder Haltverlust und eine unbeabsichtigte Bewegung seitwärts und nach unten umschreibt, gerade nicht gefordert wird.
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