Erneute Parteianhörung durch das Berufungsgericht
BGH v. 25.10.2022 - VI ZR 382/21
Der Sachverhalt:
Der Kläger nimmt die Beklagten wegen behaupteter Fehler bei seiner Geburt in Anspruch. Der Beklagte zu 1) war als ärztlicher Geburtshelfer, die Beklagte zu 2) als Beleghebamme in die Geburt des Klägers eingebunden. Am Tag der Geburt nahm der Beklagte zu 1) eine Vakuumextraktion mit einer sog. KIWI-Glocke vor. Danach war die Schulter des Klägers im mütterlichen Becken verkeilt. Daraufhin wurde das McRoberts-Manöver durchgeführt. Die weiteren Einzelheiten des mangelhaft dokumentierten Geburtsvorgangs des Klägers sind zwischen den Parteien streitig. Bei dem Kläger wurde in der Folge eine "schwerste komplette kindliche Plexusparese rechts mit Abrissen der Wurzeln C5 bis C7 und in situ Ausrissen C8 und Th1" festgestellt.
Das LG gab der Klage statt, verurteilte die Beklagten gesamtschuldnerisch zur Zahlung von Schmerzensgeld i.H.v. 70.000 € und stellte ihre Einstandspflicht für materielle Schäden fest. Die Berufung der Beklagten wies das OLG durch Beschluss gem. § 522 Abs. 2 ZPO zurück. Dagegen wenden sich die Beklagten mit ihren Nichtzulassungsbeschwerden.
Auf die Nichtzulassungsbeschwerde der Beklagten zu 2) hob der BGH den Beschluss des OLG auf und verwies die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung dorthin zurück. Die Nichtzulassungsbeschwerde des Beklagten zu 1) hatte hingegen keinen Erfolg.
Die Gründe:
Die angefochtene Entscheidung beruht auf einer Verletzung des Anspruchs der Beklagten zu 2) auf Gewährung rechtlichen Gehörs aus Art. 103 Abs. 1 GG.
Eine erneute Parteianhörung durch das Berufungsgericht kann erforderlich werden, wenn sich das erstinstanzliche Gericht - etwa aufgrund von Zeugenaussagen - von dem Gegenteil dessen überzeugt hat, was eine Partei in einer persönlichen Anhörung erklärt hat, und in den Urteilsgründen von der Würdigung dieser Parteierklärung ganz abgesehen hat. Denn auch Erklärungen der persönlich angehörten Partei sind als "Inhalt der Verhandlungen" gem. § 286 Abs. 1 Satz 1 ZPO in die Beweiswürdigung einzubeziehen. Hat das erstinstanzliche Gericht dies verfahrensfehlerhaft unterlassen, ist dies durch das Berufungsgericht nachzuholen. Das setzt eine Wiederholung der persönlichen Anhörung der Partei voraus, wenn der persönliche Eindruck der Partei für die Beweiswürdigung entscheidend sein kann.
Vorliegend hat sich das LG bei seiner Beweiswürdigung zu der entscheidenden Frage, ob zum hier maßgeblichen Zeitpunkt seitens der Beklagten zu 2) ein sog. Kristellermanöver stattgefunden hat, nicht mit der Erklärung des Beklagten zu 1) in seiner persönlichen Anhörung befasst, dass dies nicht der Fall war. Aus den Urteilsgründen ist nicht ersichtlich, ob das LG diese Erklärung, die es unerwähnt gelassen hat, überhaupt gesehen hat; jedenfalls hat es sie nicht gewürdigt. Einer ausdrücklichen Befassung mit dieser Äußerung in den Urteilsgründen hätte es vorliegend aber gem. § 286 Abs. 1 Satz 2 ZPO insbesondere deshalb bedurft, weil die Erklärung des Beklagten zu 1, dass ein Kristellern nicht stattgefunden habe, nicht sein eigenes Verhalten betraf, sondern einen etwaigen Behandlungsfehler der Beklagten zu 2), und weil er als Fachmann über die Expertise verfügen dürfte, ein Kristellern von anderen Handgriffen zu unterscheiden.
Die Beweiswürdigung des LG war demnach unvollständig. Das OLG hat die Beweiswürdigung in der angegriffenen Entscheidung vervollständigt, indem es die Erklärung des Beklagten zu 1), es habe kein Kristellern stattgefunden, als durch die Aussage der Eltern des Klägers und der Zeugin K widerlegt angesehen hat. Ohne die Wiederholung der Anhörung des Beklagten zu 1) durfte das OLG diese Würdigung aber nicht vornehmen.
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Kommentierung | ZPO
§ 286 Freie Beweiswürdigung
Greger in Zöller, Zivilprozessordnung, 34. Aufl. 2022
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Der Kläger nimmt die Beklagten wegen behaupteter Fehler bei seiner Geburt in Anspruch. Der Beklagte zu 1) war als ärztlicher Geburtshelfer, die Beklagte zu 2) als Beleghebamme in die Geburt des Klägers eingebunden. Am Tag der Geburt nahm der Beklagte zu 1) eine Vakuumextraktion mit einer sog. KIWI-Glocke vor. Danach war die Schulter des Klägers im mütterlichen Becken verkeilt. Daraufhin wurde das McRoberts-Manöver durchgeführt. Die weiteren Einzelheiten des mangelhaft dokumentierten Geburtsvorgangs des Klägers sind zwischen den Parteien streitig. Bei dem Kläger wurde in der Folge eine "schwerste komplette kindliche Plexusparese rechts mit Abrissen der Wurzeln C5 bis C7 und in situ Ausrissen C8 und Th1" festgestellt.
Das LG gab der Klage statt, verurteilte die Beklagten gesamtschuldnerisch zur Zahlung von Schmerzensgeld i.H.v. 70.000 € und stellte ihre Einstandspflicht für materielle Schäden fest. Die Berufung der Beklagten wies das OLG durch Beschluss gem. § 522 Abs. 2 ZPO zurück. Dagegen wenden sich die Beklagten mit ihren Nichtzulassungsbeschwerden.
Auf die Nichtzulassungsbeschwerde der Beklagten zu 2) hob der BGH den Beschluss des OLG auf und verwies die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung dorthin zurück. Die Nichtzulassungsbeschwerde des Beklagten zu 1) hatte hingegen keinen Erfolg.
Die Gründe:
Die angefochtene Entscheidung beruht auf einer Verletzung des Anspruchs der Beklagten zu 2) auf Gewährung rechtlichen Gehörs aus Art. 103 Abs. 1 GG.
Eine erneute Parteianhörung durch das Berufungsgericht kann erforderlich werden, wenn sich das erstinstanzliche Gericht - etwa aufgrund von Zeugenaussagen - von dem Gegenteil dessen überzeugt hat, was eine Partei in einer persönlichen Anhörung erklärt hat, und in den Urteilsgründen von der Würdigung dieser Parteierklärung ganz abgesehen hat. Denn auch Erklärungen der persönlich angehörten Partei sind als "Inhalt der Verhandlungen" gem. § 286 Abs. 1 Satz 1 ZPO in die Beweiswürdigung einzubeziehen. Hat das erstinstanzliche Gericht dies verfahrensfehlerhaft unterlassen, ist dies durch das Berufungsgericht nachzuholen. Das setzt eine Wiederholung der persönlichen Anhörung der Partei voraus, wenn der persönliche Eindruck der Partei für die Beweiswürdigung entscheidend sein kann.
Vorliegend hat sich das LG bei seiner Beweiswürdigung zu der entscheidenden Frage, ob zum hier maßgeblichen Zeitpunkt seitens der Beklagten zu 2) ein sog. Kristellermanöver stattgefunden hat, nicht mit der Erklärung des Beklagten zu 1) in seiner persönlichen Anhörung befasst, dass dies nicht der Fall war. Aus den Urteilsgründen ist nicht ersichtlich, ob das LG diese Erklärung, die es unerwähnt gelassen hat, überhaupt gesehen hat; jedenfalls hat es sie nicht gewürdigt. Einer ausdrücklichen Befassung mit dieser Äußerung in den Urteilsgründen hätte es vorliegend aber gem. § 286 Abs. 1 Satz 2 ZPO insbesondere deshalb bedurft, weil die Erklärung des Beklagten zu 1, dass ein Kristellern nicht stattgefunden habe, nicht sein eigenes Verhalten betraf, sondern einen etwaigen Behandlungsfehler der Beklagten zu 2), und weil er als Fachmann über die Expertise verfügen dürfte, ein Kristellern von anderen Handgriffen zu unterscheiden.
Die Beweiswürdigung des LG war demnach unvollständig. Das OLG hat die Beweiswürdigung in der angegriffenen Entscheidung vervollständigt, indem es die Erklärung des Beklagten zu 1), es habe kein Kristellern stattgefunden, als durch die Aussage der Eltern des Klägers und der Zeugin K widerlegt angesehen hat. Ohne die Wiederholung der Anhörung des Beklagten zu 1) durfte das OLG diese Würdigung aber nicht vornehmen.
Kommentierung | ZPO
§ 286 Freie Beweiswürdigung
Greger in Zöller, Zivilprozessordnung, 34. Aufl. 2022
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