17.01.2023

Ersatz der vom Gutachter eines beschädigten Fahrzeugs in Rechnung gestellten COVID-19-Desinfektionspauschale

Verlangt der Geschädigte eines Verkehrsunfalls vom Schädiger die Freistellung von der Honorarforderung des von ihm mit der Erstellung eines Schadensgutachtens beauftragten Sachverständigen, richtet sich sein Anspruch grundsätzlich und bis zur Grenze des Auswahl- und Überwachungsverschuldens danach, ob und in welcher Höhe er mit der Verbindlichkeit, die er gegenüber dem Sachverständigen eingegangen ist, beschwert ist. Jedenfalls in diesem Fall des Freistellungsantrags ist auch für die schadensrechtliche Betrachtung (§ 249 BGB) des Verhältnisses zwischen Geschädigtem und Schädiger die werkvertragliche Beziehung (§§ 631 ff. BGB) zwischen Geschädigtem und Sachverständigem maßgeblich.

BGH v. 13.12.2022 - VI ZR 324/21
Der Sachverhalt:
Das Fahrzeug des Klägers wurde am 2.6.2020 bei einem Verkehrsunfall beschädigt. Die volle Haftung der Beklagten als Kfz-Haftpflichtversicherer des Unfallgegners steht dem Grunde nach außer Streit. Der Kläger beauftragte einen Kfz-Sachverständigen mit der Ermittlung der Schadenshöhe. Im Rahmen der Begutachtung durch den Sachverständigen wurden sowohl bei Hereinnahme des Fahrzeugs - insoweit zum Schutz der Mitarbeiter des Sachverständigen vor der Ausbreitung des SARS-CoV-2-Virus - als auch vor Rückgabe des Fahrzeugs an den Kläger - insoweit zu dessen Schutz - alle relevanten Fahrzeugteile, die planmäßig kurzfristig berührt wurden (z.B. Lenkrad, Schalthebel, Blinkerhebel, Scheibenwischerhebel, Türgriffe innen und außen) desinfiziert, wobei der Arbeitsaufwand jeweils mehrere Minuten betrug. Der Sachverständige stellte dem Kläger seine Tätigkeit in Rechnung und berechnete ihm hierbei für die genannten "COVID-19 Schutzmaßnahmen" einen Betrag von 17,85 € (15 € zzgl. Mehrwertsteuer). Der Kläger begehrt von der Beklagten die Freistellung von dieser Forderung.

Das AG gab der Klage statt. Das LG gab ihr teilweise statt und verurteilte die Beklagte lediglich zur Freistellung des Klägers i.H.v. 8,93 € (7,50 € zzgl. Mehrwertsteuer). Auf die Revision des Klägers und die Anschlussrevision der Beklagten hob der BGH das Urteil des LG auf und verwies die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung dorthin zurück.

Die Gründe:
Die Revisionen wenden sich mit Erfolg gegen die vom LG angestellten Erwägungen zur Ersatzfähigkeit der dem Kläger für die Begutachtung des beschädigten Fahrzeugs in Rechnung gestellten COVID-19-Desinfektionspauschale (Corona-Pauschale).

Der Geschädigte ist grundsätzlich berechtigt, einen qualifizierten Gutachter seiner Wahl mit der Erstellung des Schadensgutachtens zu beauftragen. Der Geschädigte kann jedoch vom Schädiger nach § 249 Abs. 2 Satz 1 BGB als erforderlichen Herstellungsaufwand nur die Kosten erstattet verlangen, die vom Standpunkt eines verständigen, wirtschaftlich denkenden Menschen in der Lage des Geschädigten zur Behebung des Schadens zweckmäßig und notwendig erscheinen. Er ist nach dem Wirtschaftlichkeitsgebot gehalten, im Rahmen des ihm Zumutbaren den wirtschaftlicheren Weg der Schadensbehebung zu wählen. Allerdings ist bei der Beurteilung, welcher Herstellungsaufwand erforderlich ist, auch Rücksicht auf die spezielle Situation des Geschädigten, insbesondere auf seine Erkenntnis- und Einflussmöglichkeiten sowie auf die möglicherweise gerade für ihn bestehenden Schwierigkeiten zu nehmen. Auch ist der Geschädigte grundsätzlich nicht zu einer Erforschung des ihm zugänglichen Markts verpflichtet, um einen möglichst preisgünstigen Sachverständigen ausfindig zu machen. Dabei verbleibt für den Geschädigten allerdings das Risiko, dass er ohne nähere Erkundigungen einen Sachverständigen beauftragt, der sich später im Prozess als - auch für ihn erkennbar - zu teuer erweist.

Verlangt der Geschädigte vom Schädiger - wie hier - die Freistellung von der Honorarforderung des von ihm auf dieser Grundlage beauftragten Sachverständigen, richtet sich sein Anspruch schon nach seinem ausdrücklichen Klagebegehren (§ 308 Abs. 1 Satz 1 ZPO) grundsätzlich und bis zur Grenze des Auswahl- und Überwachungsverschuldens danach, ob und in welcher Höhe er mit der Verbindlichkeit, die er gegenüber dem Sachverständigen eingegangen ist, beschwert ist. Jedenfalls in diesem Fall des Freistellungsantrags ist auch für die schadensrechtliche Betrachtung (§ 249 BGB) des Verhältnisses zwischen Geschädigtem und Schädiger die werkvertragliche Beziehung (§§ 631 ff. BGB) zwischen Geschädigtem und Sachverständigem maßgeblich. Denn der Geschädigte, der in Wahrnehmung seiner Ersetzungsbefugnis (§ 249 Abs. 2 Satz 1 BGB) berechtigter Weise ein Schadensgutachten bei einem Sachverständigen in Auftrag gibt, muss vom Schädiger die Freistellung von der ihm hieraus gegenüber dem Sachverständigen entstehenden Verbindlichkeit verlangen können, soweit dessen Vergütungsanspruch nicht auch für den Geschädigten erkennbar überhöht war.

Nach diesen Grundsätzen kommt es im Streitfall entgegen der Rechtsauffassung des LG nicht darauf an, ob die dem Kläger vom Sachverständigen für die Erstellung des Schadensgutachtens pauschal in Rechnung gestellten Desinfektionsmaßnahmen jeweils objektiv erforderlich i.S.d. § 249 Abs. 2 Satz 1 BGB waren. Da ein Auswahl- und Überwachungsverschulden des Klägers nach den Umständen des Streitfalles weder ersichtlich noch dargetan ist, ist vielmehr maßgeblich, ob und in welcher Höhe der Kläger dem Sachverständigen nach werkvertraglichen Grundsätzen eine Vergütung für die Desinfektionsmaßnahmen schuldet. Eine ausdrückliche Vergütungsvereinbarung haben Kläger und Sachverständiger hier nicht getroffen. Die Erstellung des Schadensgutachtens durch den Sachverständigen war jedoch nur gegen Zahlung einer Vergütung zu erwarten, so dass eine Vergütung als stillschweigend vereinbart gilt, § 632 Abs. 1 BGB. Da die Höhe der Vergütung nicht bestimmt wurde und eine Taxe i.S.v. § 632 Abs. 2 BGB für die Erstellung von Schadensgutachten der hier fraglichen Art nicht besteht, ist nach § 632 Abs. 2 BGB die übliche Vergütung als vereinbart anzusehen. Da sich eine solche übliche Vergütung jedenfalls für die streitgegenständlichen Desinfektionsmaßnahmen nicht bestimmen ließ, wäre weiter zu prüfen gewesen, ob sich die Höhe der Vergütung insoweit durch ergänzende Vertragsauslegung ermitteln lässt. Lässt sich die mangels Vergütungsvereinbarung bestehende Vertragslücke auch auf diesem Weg nicht schließen, kann ausnahmsweise eine einseitige Bestimmung der Gegenleistung durch den Sachverständigen in Betracht kommen, soweit diese sich in den Grenzen der Billigkeit hält, §§ 315, 316 BGB.

Mehr zum Thema:

Kommentierung | ZPO
§ 249 Art und Umfang des Schadensersatzes
Ebert in Erman, BGB, 16./17. Aufl. 2020/2023

Aufsatz:
Die Auswirkungen der Corona-Pandemie auf die Schadensabwicklung bei Verkehrsunfällen
Martin Zwickel, MDR 2021, 845

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