17.12.2021

Familiennachzug des volljährig gewordenen Kindes zu einem anerkannten Flüchtling

Das Kind eines Zusammenführenden, der als Flüchtling anerkannt worden ist, ist minderjährig, wenn es zum Zeitpunkt der Asylantragstellung des Zusammenführenden minderjährig war, aber vor dessen Anerkennung als Flüchtling volljährig geworden ist, sofern der Antrag auf Familienzusammenführung innerhalb von drei Monaten nach Anerkennung des Zusammenführenden als Flüchtling gestellt wurde. Wäre es anders, könnte das Recht auf Familienzusammenführung von zufälligen und nicht vorhersehbaren Umständen abhängig gemacht werden.

EuGH, C-279/20: Schlussanträge des Generalanwalts vom 16.12.2021
Der Sachverhalt:
Der Vater der Klägerin, einer am 1.1.1999 geborenen Syrerin, reiste 2015 nach Deutschland ein und stellte im April 2016, d.h. noch vor dem 18. Geburtstag seiner Tochter, förmlich Asylantrag. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge erkannte ihm im Juli 2017, d.h. nach dem 18. Geburtstag seiner Tochter, die Flüchtlingseigenschaft zu. Im September 2017 wurde ihm eine für drei Jahre gültige Aufenthaltserlaubnis erteilt. Die seit mehreren Jahren in der Türkei lebende Klägerin, deren Mutter verstorben ist, beantragte im August 2017, d.h. als sie bereits volljährig war, beim deutschen Generalkonsulat in Istanbul die Erteilung eines nationalen Visums zum Zweck des Familiennachzugs zu ihrem in Deutschland lebenden Vater. Das Generalkonsulat lehnte den Antrag ab, da sie bereits erwachsen sei und folglich die Voraussetzungen nach dem deutschen Aufenthaltsgesetz nicht erfüllt seien. Zudem habe ihr Vater vor dem Eintreten ihrer Volljährigkeit noch nicht über die Aufenthaltserlaubnis als Flüchtling verfügt. Zwar sei ein Familiennachzug volljährig gewordener Kinder möglich, wenn eine außergewöhnliche Härte gegeben sei. Eine solche liege hier jedoch nicht vor, weil nicht erkennbar sei, dass die Tochter in der Türkei kein eigenständiges Leben führen könne.

Das von der Klägerin angerufene VG verpflichtete die Bundesrepublik, ihr ein Visum zum Zweck des Familiennachzugs zu erteilen. Maßgeblich für die Beurteilung der Minderjährigkeit sei der Zeitpunkt der Asylantragstellung ihres Vaters und nicht der Zeitpunkt, zu dem sie das Visum zum Familiennachzug beantragt habe. Das Urteil des EuGH vom 12.4.2018 ("A und S" - C-550/16), sei auf die vorliegende umgekehrte Sachverhaltskonstellation - nämlich den Nachzug eines Kindes zu einem als Flüchtling anerkannten Elternteil - übertragbar. Hiergegen legte die Bundesrepublik Revision beim BVerwG ein.

Das BVerwG hat das Verfahren ausgesetzt und den EuGH im Wege des Vorabentscheidungsersuchens um Auslegung der Richtlinie 2003/86/EG betreffend das Recht auf Familienzusammenführung ersucht. Diese Richtlinie sieht vor, dass die Mitgliedstaaten den minderjährigen Kindern des Zusammenführenden die Einreise und den Aufenthalt gestatten müssen, wenn der Zusammenführende das Sorgerecht besitzt und für den Unterhalt der Kinder aufkommt, vorbehaltlich bestimmter Voraussetzungen (Art. 4 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. c).

Das BVerwG möchte zum einen wissen, auf welchen Zeitpunkt bei der Ausübung des Rechts auf Familienzusammenführung für die Beurteilung der Minderjährigkeit des Kindes eines Flüchtlings abzustellen ist. Außerdem möchte es wissen, welche Anforderungen gestellt werden können, um tatsächliche familiäre Bindungen festzustellen, wenn ein in einem Drittstaat lebendes Kind, das als Minderjähriger den Nachzug zu seinem Zusammenführenden beantragt hat, volljährig geworden ist.

Die Gründe:
Art. 4 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2003/86 ist dahin auszulegen, dass das Kind eines Zusammenführenden, der als Flüchtling anerkannt worden ist, minderjährig im Sinne dieser Vorschrift ist, wenn es zum Zeitpunkt der Asylantragstellung des Zusammenführenden minderjährig war, aber vor dessen Anerkennung als Flüchtling volljährig geworden ist, sofern der Antrag auf Familienzusammenführung innerhalb von drei Monaten nach Anerkennung des Zusammenführenden als Flüchtling gestellt wurde.

Bei Anwendung dieses Ansatzes auf den Streitfall hätten die Klägerin und ihr Vater im April 2016, als er Asyl beantragte, im Hinblick auf ihr damaliges Alter und den deklaratorischen Charakter der Zuerkennung seiner Flüchtlingseigenschaft Anspruch auf Familienzusammenführung gem. Art. 4 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2003/86 gehabt. Im Licht des Urteils "A und S" wäre es rechtswidrig, für die Beurteilung ihrer Minderjährigkeit auf den Zeitpunkt abzustellen, zu dem ihrem Vater die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt wurde, und nicht auf den Zeitpunkt, zu dem die Flüchtlingseigenschaft entstand.

Wäre es anders, könnte das Recht auf Familienzusammenführung von zufälligen und nicht vorhersehbaren Umständen abhängig gemacht werden, die in vollem Umfang den zuständigen nationalen Behörden und Gerichten des betreffenden Mitgliedstaats zuzurechnen wären und zu großen Unterschieden bei der Bearbeitung von Anträgen auf Familienzusammenführung zwischen den Mitgliedstaaten und innerhalb ein und desselben Mitgliedstaats führen. Ein solcher Ansatz liefe der EU-Grundrechte Charta zuwider. Im Übrigen hat die Klägerin den Antrag auf Familiennachzug zu ihrem Vater einen Monat, nachdem diesem die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt worden sei, und somit frühzeitig innerhalb der vom EuGH im Urteil "A und S" vorgesehenen Dreimonatsfrist gestellt.

Ein rechtliches Eltern-Kind-Verhältnis allein reicht nicht aus, um tatsächliche familiäre Bindungen i.S.v. Art. 16 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2003/86 zu begründen. Wird die Familienzusammenführung bzgl. eines minderjährigen Kindes beantragt, das in der Zwischenzeit volljährig geworden ist, sind der Zusammenführende und sein Kind nicht verpflichtet, in einem gemeinsamen Haushalt oder unter demselben Dach zusammenzuleben. Es genügen gelegentliche Besuche und regelmäßige Kontakte jeglicher Art, die ihnen die (Wieder)herstellung oder (Wieder)aufnahme ihrer familiären Bindungen ermöglichen.

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