01.08.2022

Familienzusammenführung: Eltern- und Kindernachzug

Die Ablehnung der Erteilung eines nationalen Visums zum Zweck der Familienzusammenführung an den Elternteil eines während dieses Verfahrens volljährig gewordenen unbegleiteten minderjährigen Flüchtlings verstößt gegen das Unionsrecht. Gleiches gilt für den Fall, dass ein solcher Antrag von einem minderjährigen Kind gestellt wird, das volljährig geworden ist, bevor sein Vater als Flüchtling anerkannt wurde und vor Stellung des Antrags auf Familienzusammenführung.

EuGH v. 1.8.2022 - C-273/20 u.a.
Der Sachverhalt:
SW, BL und BC beantragten als syrische Staatsangehörige die Erteilung von nationalen Visa zum Zweck der Familienzusammenführung mit ihrem jeweiligen, in Deutschland als Flüchtling anerkannten Sohn. XC beantragte ebenfalls als syrische Staatsangehörige die Erteilung eines nationalen Visums zum Zweck der Familienzusammenführung mit ihrem in Deutschland als Flüchtling anerkannten Vater. Ihre Anträge wurden mit der Begründung abgelehnt, dass die Söhne von SW, BL und BC sowie XC in der Zwischenzeit volljährig geworden seien.

Das VG verpflichtete Deutschland dazu, SW, BL und BC sowie XC nationale Visa zum Zweck der Familienzusammenführung zu erteilen, da ihre Söhne und XC nach der Rechtsprechung des EuGH als Minderjährige zu betrachten seien. Deutschland legte gegen diese Urteile Revision an das BVerwG ein, das dem EuGH nunmehr Fragen zur Auslegung von Bestimmungen der Richtlinie betreffend das Recht auf Familienzusammenführung zur Vorabentscheidung vorgelegt hat.

Die Gründe:
Das Ziel der Richtlinie betreffend das Recht auf Familienzusammenführung besteht darin, diese zu begünstigen und Drittstaatsangehörigen, insbesondere Minderjährigen, Schutz zu gewähren. Die Richtlinie ist im Licht des Rechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens in Verbindung mit der Verpflichtung zur Berücksichtigung des Kindeswohls auszulegen und anzuwenden. Ein Abstellen auf den Zeitpunkt, zu dem die zuständige Behörde des betreffenden Mitgliedstaats über den Antrag auf Einreise und auf Aufenthalt im Hoheitsgebiet dieses Staates zum Zweck der Familienzusammenführung entscheidet, als Zeitpunkt, nach dem sich die Beurteilung des Alters des Antragstellers oder, je nach Fall, des Zusammenführenden für die Gestattung des Nachzugs richtet, stünde weder mit den Zielen der Richtlinie betreffend das Recht auf Familienzusammenführung noch mit den Anforderungen im Einklang, die sich aus der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ergeben.

Die zuständigen nationalen Behörden und Gerichte hätten dann keine Veranlassung, die Anträge der Eltern Minderjähriger mit der Dringlichkeit, die geboten ist, um der Schutzbedürftigkeit der Minderjährigen Rechnung zu tragen, vorrangig zu bearbeiten, und könnten somit in einer Weise handeln, die das Recht auf Familienleben sowohl eines Elternteils mit seinem minderjährigen Kind als auch des Kindes mit einem Familienangehörigen gefährden würde. Eine solche Auslegung würde es zudem nicht ermöglichen, im Einklang mit den Grundsätzen der Gleichbehandlung und der Rechtssicherheit eine gleiche und vorhersehbare Behandlung aller Antragsteller, die sich zeitlich in der gleichen Situation befinden, zu gewährleisten. Eine derartige Auslegung würde dazu führen, dass der Erfolg des Antrags auf Familienzusammenführung hauptsächlich von Umständen abhinge, die in der Sphäre der nationalen Behörden oder Gerichte liegen, insbesondere von der mehr oder weniger zügigen Bearbeitung des Antrags oder von der mehr oder weniger zügigen Entscheidung über einen Rechtsbehelf gegen die Ablehnung eines solchen Antrags, und nicht von Umständen, die in der Sphäre des Antragstellers liegen.

Nach alldem ist bei der Familienzusammenführung von Eltern und einem unbegleiteten minderjährigen Flüchtling der Zeitpunkt der Entscheidung über den von den Eltern des Zusammenführenden gestellten Antrag auf Einreise und Aufenthalt zum Zweck der Familienzusammenführung für die Beurteilung der Minderjährigeneigenschaft des betreffenden Flüchtlings nicht maßgebend. In einer solchen Situation stellt die Minderjährigkeit dieses Flüchtlings auch noch zu diesem Zeitpunkt keine "Bedingung" dar, bei deren Nichterfüllung die Mitgliedstaaten einen solchen Antrag ablehnen können. Ferner steht die fragliche Richtlinie einer nationalen Regelung entgegen, nach der in einem solchen Fall das Aufenthaltsrecht der Eltern mit Eintritt der Volljährigkeit des Kindes endet.

Der maßgebende Zeitpunkt für die Feststellung, ob ein Kind eines als Flüchtling anerkannten Zusammenführenden ein minderjähriges Kind ist, wenn es vor der Anerkennung des zusammenführenden Elternteils als Flüchtling und vor Stellung des Antrags auf Familienzusammenführung volljährig geworden ist, ist der Zeitpunkt, zu dem dieser Elternteil seinen Asylantrag gestellt hat. Ein solcher Antrag auf Familienzusammenführung muss jedoch innerhalb einer angemessenen Frist erfolgen, d.h. innerhalb einer Frist von drei Monaten ab Anerkennung des zusammenführenden Elternteils als Flüchtling.

Bei der Familienzusammenführung eines Elternteils und eines als Flüchtling anerkannten minderjährigen Kindes bzw. eines minderjährigen Kindes und eines als Flüchtling anerkannten Elternteils genügt, wenn das Kind vor Erlass der Entscheidung über den Antrag dieses Elternteils auf Einreise und Aufenthalt zum Zweck der Familienzusammenführung bzw. vor der Anerkennung des zusammenführenden Elternteils als Flüchtling und vor Stellung des Antrags auf Familienzusammenführung volljährig geworden ist, die bloße Verwandtschaft in gerader aufsteigender Linie ersten Grades bzw. das bloße rechtliche Eltern-Kind-Verhältnis nicht für die Annahme, dass tatsächliche familiäre Bindungen zwischen dem betreffenden Elternteil und dem betreffenden Kind bestehen. Es ist jedoch nicht erforderlich, dass der Flüchtling und der andere Familienangehörige im selben Haushalt zusammenleben oder unter einem Dach wohnen, damit der betreffende Elternteil oder das betreffende Kind Anspruch auf Familienzusammenführung haben kann. Gelegentliche Besuche und regelmäßige Kontakte können für die Annahme, dass diese Personen persönliche und emotionale Beziehungen wiederaufbauen, und als Beleg für das Bestehen tatsächlicher familiärer Bindungen ausreichen.

Mehr zum Thema:

Aufsatz:

Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zum Familienrecht in den Jahren 2020 und 2021
Robert Uerpmann-Wittzack, FamRZ 2022, 749

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EuGH PM Nr. 136 vom 1.8.2022
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