08.04.2025

Fingierter Verkehrsunfall: Sonderzuständigkeit nach § 72a Abs. 1 Nr. 4 GVG ist eng auszulegen

Für den Regressanspruch eines Kfz-Haftpflichtversicherers gegen den Versicherungsnehmer aufgrund eines fingierten Verkehrsunfalls ist eine gesetzliche Sonderzuständigkeit der Zivilkammern für Streitigkeiten aus Versicherungsvertragsverhältnissen nach § 72a Abs. 1 Nr. 4 GVG nicht begründet. Die Vorschrift ist nach herrschender Auffassung entsprechend ihrem Normzweck eng auszulegen.

KG Berlin v. 3.4.2025 - 2 UH 9/25
Der Sachverhalt:
Bei der Klägerin handelt es sich um die Kfz-Haftpflichtversicherung der Beklagten. Die Parteien stritten um Ansprüche nach einem angeblich fingierten Verkehrsunfall. Die Klägerin hatte gegen den Beklagten einen Vollstreckungsbescheid über rund 5.000 € erwirkt, wobei sie die Forderung wie folgt bezeichnet hat: "Rückgriff aus Versich.Vertr. wg. Unfall/Vorfall gem. Mahnung vom 28.4.24".

Aufgrund des Einspruchs des Beklagten wurde die Sache an das LG Berlin II und dort an die als Kammer für Streitigkeiten aus Versicherungsvertragsverhältnissen fungierende Zivilkammer 23 abgegeben. Die Klägerin hat vorgetragen, dass sie aufgrund eines vom Beklagten behaupteten Verkehrsunfalls 5.000 € an den angeblichen Unfallgegner gezahlt habe. Da der Beklage das Unfallgeschehen in betrügerischer Absicht lediglich vorgetäuscht habe, sei er zur Rückzahlung dieses Betrags verpflichtet.

Die Zivilkammer 23 hat daraufhin den bereits anberaumten Termin zur mündlichen Verhandlung aufgehoben und die Sache abgegeben, weil es sich um eine Verkehrsunfallsache nach Rn. 57 - 2. Spiegelstrich - des Geschäftsverteilungsplans (Ansprüche aus vorgetäuschten Unfällen) handele. Die hierauf mit der Sache befasste Zivilkammer 50 sah sich durch die Abgabe in ihrer Zuständigkeit jedoch nicht gebunden und hat sich für unzuständig erklärt.

Das KG hat die allgemeinen (nicht mit einer gesetzlichen Sonderzuständigkeit befassten) Zivilkammern des LG Berlin II als funktionell zuständige Spruchkörper bestimmt.

Die Gründe:
Als funktionell zuständig waren hier die allgemeinen Zivilkammern des LG zu bestimmen, da die Voraussetzungen für eine gesetzliche Sonderzuständigkeit nach § 72a Abs. 1 Nr. 4 GVG nicht vorlagen.

Zwar entfiel die funktionelle Zuständigkeit nicht bereits deshalb, weil nach der Regelung des Geschäftverteilungsplans Streitigkeiten über Ansprüche aus vorgetäuschten Unfällen als Verkehrsunfallsachen galten und damit den allgemeinen (d.h. nicht mit einer gesetzlichen Sonderzuständigkeit befassten) Zivilkammern des LG zugewiesen waren. Denn dem stand bereits entgegen, dass die nähere Eingrenzung und Ausgestaltung der gesetzlichen Sonderzuständigkeiten nach §§ 72a, 119a GVG der Regelungskompetenz der Gerichtspräsidien entzogen ist (Senat, Beschl. v. 16.1.2023 - 2 AR 2/23, MDR 2023, 596).

Eine gesetzliche Sonderzuständigkeit der Kammern für Streitigkeiten aus Versicherungsvertragsverhältnissen nach § 72a Abs. 1 Nr. 4 GVG war jedoch deshalb nicht begründet, weil der Anwendungsbereich der in Rede stehenden Vorschrift nicht eröffnet war. Nach der Gesetzesbegründung sind von der Zuständigkeit nach § 72a Abs. 1 Nr. 4 GVG Streitigkeiten aus Versicherungsverhältnissen zwischen dem Versicherungsnehmer, dem Versicherten oder dem Bezugsberechtigten und dem Versicherer umfasst. Die Vorschrift ist nach herrschender Auffassung entsprechend ihrem Normzweck eng auszulegen. Direktansprüche des Geschädigten gegen Versicherer und gesetzliche Ausgleichs- und Rückgriffsansprüche des Versicherers werden daher von ihrem Anwendungsbereich nicht erfasst (BayObLG, Beschl. v. 20.7.2022 - 102 AR 56/22, MDR 2022, 1159; Senat, Beschl. vom 15.4.2019 - 2 AR 9/19, VersR 2019, 775; Zöller/Lückemann, ZPO, 35. Aufl. 2024, § 72a GVG Rn. 7).

Infolgedessen waren die Voraussetzungen einer Streitigkeit nach § 72a Abs. 1 Nr. 4 GVG hier nicht erfüllt. Zwar hat zwischen den Parteien des Rechtsstreits ein Versicherungsvertragsverhältnis bestanden. Es handelte sich bei dem von der Klägerin geltend gemachten Anspruch jedoch nicht um einen solchen "aus" diesem Verhältnis. Die in der Gesetzesbegründung enthaltene Formulierung "aus Versicherungsvertragsverhältnissen" setzt das Vorliegen eines Versicherungsvertrags voraus, aus dem die betreffenden Ansprüche abgeleitet werden (vgl. BayObLG, Beschl. vom 20.7.2022 - 102 AR 56/22, MDR 2022, 1159). Das war hier jedoch nicht der Fall.

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