Fluggastrechte: Vorverlegung von Flügen
EuGH, C-146/20 u.a.: Schlussanträge des Generalanwalts vom 23.9.2021
Der Sachverhalt:
In den verbundenen Rechtssachen C-146/20 (Corendon Airlines), C-188/20 (Azurair), 196/20 (Eurowings) und C-270/20 (Austrian Airlines) haben das LG Düsseldorf bzw. das LG Korneuburg den EuGH um Auslegung der Fluggastrechte-Verordnung Nr. 261/2004 ersucht.
Es geht vorliegend um drei Themenkomplexe, nämlich erstens die Rechte der Fluggäste in einem dreiseitigen Verhältnis, an dem ein nicht mit dem Luftfahrtunternehmen verbundenes Reiseunternehmen beteiligt ist, zweitens die Möglichkeit, im Fall einer Vorverlegung der Abflugzeit eine Ausgleichsleistung zu erhalten, und drittens den Umfang der jedem Luftfahrtunternehmen obliegenden Verpflichtung, die Fluggäste über die in der Verordnung vorgesehenen Regeln für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen zu informieren.
Die Gründe:
Art. 3 Abs. 2 Buchst. a der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 (Fluggastrechteverordnung) ist dahin auszulegen, dass ein Fluggast über eine bestätigte Buchung verfügen kann, wenn er von einem Reiseunternehmen, mit dem er in einer Vertragsbeziehung steht, einen anderen Beleg i.S.v. Art. 2 Buchst. g dieser Verordnung erhalten hat, der eine Beförderungszusage für einen bestimmten, durch Abflugs- und Ankunftsort, Abflugs- und Ankunftszeit und Flugnummer individualisierten Flug enthält, auch wenn das Reiseunternehmen eine Platzreservierung für diesen Flug bei dem betreffenden Luftfahrtunternehmen weder vorgenommen noch von diesem bestätigt erhalten hat. Dies ist nicht der Fall, wenn der Fluggast ein als "Reiseanmeldung" bezeichnetes Dokument erhalten hat, das nicht Ausdruck einer verbindlichen Zusage des Reiseunternehmens ist, die in diesem Dokument spezifizierte Reiseleistung zu erbringen.
Der bloße Umstand, dass die für den betreffenden Flug vorgenommene Buchung des Reiseunternehmens beim Luftfahrtunternehmen nicht mit den Abflug- oder Ankunftszeiten bestätigt wurde, die in der Buchung des Fluggasts beim Reiseunternehmen angegeben waren, oder dass diese Buchung des Reiseunternehmens erst nach der Buchung des Fluggasts vorgenommen wurde, schließt es nicht aus, dass das Luftfahrtunternehmen im Verhältnis zu einem solchen Fluggast ausführendes Luftfahrtunternehmen i.S.v. Art. 2 Buchst. b der Verordnung sein kann. Die planmäßige Ankunftszeit eines Fluges i.S.v. Art. 2 Buchst. h, Art. 5 Abs. 1 Buchst. c und Art. 7 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 2 der Verordnung kann sich je nach den Umständen des Falles auch aus einem anderen Beleg i.S.v. Art. 2 Buchst. g der Verordnung ergeben, den ein Reiseunternehmen einem Fluggast ausgestellt hat.
Eine Annullierung eines Fluges i.S.v. Art. 2 Buchst. l und Art. 5 Abs. 1 der Verordnung liegt vor, wenn das ausführende Luftfahrtunternehmen den im Rahmen einer Pauschalreise gebuchten Flug um mindestens zwei Stunden vorverlegt. Die Vorverlegung von Flügen wird in der Verordnung nicht ausdrücklich angesprochen. Mehrere Bestimmungen der Verordnung lassen jedoch den Schluss zu, dass der Unionsgesetzgeber eine erhebliche Vorverlegung von Flügen vermeiden wollte. Es gibt eine Vielzahl von Fällen, in denen sich die Vorverlegung der Abflugzeit eines Fluges für den Fluggast als besonders problematisch erweisen könne. Dies sei insbesondere der Fall, wenn der Flug um mehrere Stunden vorverlegt werde und dies den Fluggast möglicherweise zwinge, geplante Termine abzusagen, Jahresurlaub zu beantragen, um seinem Arbeitsplatz fernbleiben zu können, eine vorübergehende Unterkunft zu suchen oder Transportmittel zu organisieren, um sich rechtzeitig zum Flughafen begeben zu können. Die Unannehmlichkeiten, die mit der Vorverlegung eines Fluges verbunden sind, können sogar schwerwiegender sein als diejenigen, die durch die bloße Verspätung eines Fluges hervorgerufen würden. Es ist insoweit auf eine Annullierung zu schließen, wenn die Vorverlegung des Fluges so erheblich ist, dass nicht davon ausgegangen werden kann, dass es einem Fluggast, der seine Vorkehrungen am ursprünglichen Flugplan ausgerichtet hat, noch gelungen wäre, diesen Flug anzutreten.
In den Fällen, in denen die Vorverlegung eines Fluges eine Annullierung darstellt, darf das ausführende Luftfahrtunternehmen die in Art. 7 Abs. 1 der Verordnung vorgesehene Ausgleichszahlung nicht auf der Grundlage von Art. 7 Abs. 2 dieser Verordnung kürzen. Das Angebot einer anderweitigen Beförderung i.S.v. Art. 8 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung kann unter den in diesem Artikel festgelegten Voraussetzungen in einer vor Reisebeginn erteilten Information über die Vorverlegung eines Fluges bestehen. Art. 14 Abs. 2 der Verordnung verpflichtet das ausführende Luftfahrtunternehmen, den Fluggast über die genaue Bezeichnung des Unternehmens und die Anschrift zu unterrichten, unter der er seinen Ausgleichsanspruch geltend machen kann, und gegebenenfalls klarzustellen, welche Unterlagen er seinem Antrag beizufügen hat. Was den Umfang des Entschädigungsanspruchs betrifft, reicht es für die Einhaltung der Bestimmungen von Art. 14 Abs. 2 aus, wenn die schriftliche Information die insoweit in dieser Verordnung vorgesehenen Regeln darlegt; es ist nicht erforderlich, dass nach Maßgabe des Einzelfalls ein konkreter Betrag berechnet wird. Art. 5 Abs. 1 Buchst. c Ziff. i bis iii der Verordnung ist dahin auszulegen, dass die Verpflichtung, die Fluggäste über Annullierungen zu unterrichten, ausschließlich im Hinblick auf diese Verordnung zu erfüllen ist, was der Anwendung nationaler Vorschriften entgegensteht, die eine Vermutung für den Zugang elektronischer Erklärungen begründen.
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In den verbundenen Rechtssachen C-146/20 (Corendon Airlines), C-188/20 (Azurair), 196/20 (Eurowings) und C-270/20 (Austrian Airlines) haben das LG Düsseldorf bzw. das LG Korneuburg den EuGH um Auslegung der Fluggastrechte-Verordnung Nr. 261/2004 ersucht.
Es geht vorliegend um drei Themenkomplexe, nämlich erstens die Rechte der Fluggäste in einem dreiseitigen Verhältnis, an dem ein nicht mit dem Luftfahrtunternehmen verbundenes Reiseunternehmen beteiligt ist, zweitens die Möglichkeit, im Fall einer Vorverlegung der Abflugzeit eine Ausgleichsleistung zu erhalten, und drittens den Umfang der jedem Luftfahrtunternehmen obliegenden Verpflichtung, die Fluggäste über die in der Verordnung vorgesehenen Regeln für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen zu informieren.
Die Gründe:
Art. 3 Abs. 2 Buchst. a der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 (Fluggastrechteverordnung) ist dahin auszulegen, dass ein Fluggast über eine bestätigte Buchung verfügen kann, wenn er von einem Reiseunternehmen, mit dem er in einer Vertragsbeziehung steht, einen anderen Beleg i.S.v. Art. 2 Buchst. g dieser Verordnung erhalten hat, der eine Beförderungszusage für einen bestimmten, durch Abflugs- und Ankunftsort, Abflugs- und Ankunftszeit und Flugnummer individualisierten Flug enthält, auch wenn das Reiseunternehmen eine Platzreservierung für diesen Flug bei dem betreffenden Luftfahrtunternehmen weder vorgenommen noch von diesem bestätigt erhalten hat. Dies ist nicht der Fall, wenn der Fluggast ein als "Reiseanmeldung" bezeichnetes Dokument erhalten hat, das nicht Ausdruck einer verbindlichen Zusage des Reiseunternehmens ist, die in diesem Dokument spezifizierte Reiseleistung zu erbringen.
Der bloße Umstand, dass die für den betreffenden Flug vorgenommene Buchung des Reiseunternehmens beim Luftfahrtunternehmen nicht mit den Abflug- oder Ankunftszeiten bestätigt wurde, die in der Buchung des Fluggasts beim Reiseunternehmen angegeben waren, oder dass diese Buchung des Reiseunternehmens erst nach der Buchung des Fluggasts vorgenommen wurde, schließt es nicht aus, dass das Luftfahrtunternehmen im Verhältnis zu einem solchen Fluggast ausführendes Luftfahrtunternehmen i.S.v. Art. 2 Buchst. b der Verordnung sein kann. Die planmäßige Ankunftszeit eines Fluges i.S.v. Art. 2 Buchst. h, Art. 5 Abs. 1 Buchst. c und Art. 7 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 2 der Verordnung kann sich je nach den Umständen des Falles auch aus einem anderen Beleg i.S.v. Art. 2 Buchst. g der Verordnung ergeben, den ein Reiseunternehmen einem Fluggast ausgestellt hat.
Eine Annullierung eines Fluges i.S.v. Art. 2 Buchst. l und Art. 5 Abs. 1 der Verordnung liegt vor, wenn das ausführende Luftfahrtunternehmen den im Rahmen einer Pauschalreise gebuchten Flug um mindestens zwei Stunden vorverlegt. Die Vorverlegung von Flügen wird in der Verordnung nicht ausdrücklich angesprochen. Mehrere Bestimmungen der Verordnung lassen jedoch den Schluss zu, dass der Unionsgesetzgeber eine erhebliche Vorverlegung von Flügen vermeiden wollte. Es gibt eine Vielzahl von Fällen, in denen sich die Vorverlegung der Abflugzeit eines Fluges für den Fluggast als besonders problematisch erweisen könne. Dies sei insbesondere der Fall, wenn der Flug um mehrere Stunden vorverlegt werde und dies den Fluggast möglicherweise zwinge, geplante Termine abzusagen, Jahresurlaub zu beantragen, um seinem Arbeitsplatz fernbleiben zu können, eine vorübergehende Unterkunft zu suchen oder Transportmittel zu organisieren, um sich rechtzeitig zum Flughafen begeben zu können. Die Unannehmlichkeiten, die mit der Vorverlegung eines Fluges verbunden sind, können sogar schwerwiegender sein als diejenigen, die durch die bloße Verspätung eines Fluges hervorgerufen würden. Es ist insoweit auf eine Annullierung zu schließen, wenn die Vorverlegung des Fluges so erheblich ist, dass nicht davon ausgegangen werden kann, dass es einem Fluggast, der seine Vorkehrungen am ursprünglichen Flugplan ausgerichtet hat, noch gelungen wäre, diesen Flug anzutreten.
In den Fällen, in denen die Vorverlegung eines Fluges eine Annullierung darstellt, darf das ausführende Luftfahrtunternehmen die in Art. 7 Abs. 1 der Verordnung vorgesehene Ausgleichszahlung nicht auf der Grundlage von Art. 7 Abs. 2 dieser Verordnung kürzen. Das Angebot einer anderweitigen Beförderung i.S.v. Art. 8 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung kann unter den in diesem Artikel festgelegten Voraussetzungen in einer vor Reisebeginn erteilten Information über die Vorverlegung eines Fluges bestehen. Art. 14 Abs. 2 der Verordnung verpflichtet das ausführende Luftfahrtunternehmen, den Fluggast über die genaue Bezeichnung des Unternehmens und die Anschrift zu unterrichten, unter der er seinen Ausgleichsanspruch geltend machen kann, und gegebenenfalls klarzustellen, welche Unterlagen er seinem Antrag beizufügen hat. Was den Umfang des Entschädigungsanspruchs betrifft, reicht es für die Einhaltung der Bestimmungen von Art. 14 Abs. 2 aus, wenn die schriftliche Information die insoweit in dieser Verordnung vorgesehenen Regeln darlegt; es ist nicht erforderlich, dass nach Maßgabe des Einzelfalls ein konkreter Betrag berechnet wird. Art. 5 Abs. 1 Buchst. c Ziff. i bis iii der Verordnung ist dahin auszulegen, dass die Verpflichtung, die Fluggäste über Annullierungen zu unterrichten, ausschließlich im Hinblick auf diese Verordnung zu erfüllen ist, was der Anwendung nationaler Vorschriften entgegensteht, die eine Vermutung für den Zugang elektronischer Erklärungen begründen.