Grober Befunderhebungsfehler bei Ultraschalluntersuchung einer adipösen und an Gestionsdiabetes erkrankten Mutter
OLG Köln v. 10.2.2025 - 5 U 33/23
Der Sachverhalt:
Die Klägerin hatte 2003 und 2005 zwei Kinder auf natürlichem Weg entbunden. In beiden Schwangerschaften litt sie an Gestationsdiabetes. Die Kinder hatten ein Geburtsgewicht von 3.680 g bzw. 3.780 g. Auch bei der dritten Schwangerschaft 2013 wurde Gestationsdiabetes festgestellt. Am 16.1.2014 (36+1 SSW) stellte sich die Klägerin erstmals im Krankenhaus der Beklagten zu 1) zur Geburtsplanung und Untersuchung vor und wurde vom Beklagten zu 2) untersucht. Dieser führte eine Ultraschalluntersuchung durch und schätzte das Gewicht des Fötus auf 3.475 g. Die Größe der Klägerin wurde mit 160 cm, ihr Gewicht mit 104,2 kg festgehalten. Der Beklagte zu 2) ist Chefarzt der gynäkologischen Abteilung der Beklagten zu 1).
Es erfolgte eine ausführliche Aufklärung hinsichtlich der verschiedenen Formen des Gestationsdiabetes und ihre Bedeutung für die Betreuung in der Schwangerschaft und für die Entbindung. Auch dem Ehemann der Klägerin wurden die erhobenen Befunde erläutert, insbesondere die Bedeutung der Makrosomie (Großwuchs des Fötus). Die Klägerin befand sich vom 5.2. bis 7.2.2014 täglich in ärztlicher Behandlung, mit jeweils unauffälligem Ergebnis. Am 6.2.2014 wurde erneut ein Ultraschall durchgeführt. Das Gewicht des Fötus wurde auf 3.299 g +/-500 g geschätzt.
Am 10.2.2014 nachmittags wurde die Klägerin stationär von der Beklagten zu 1) bei regelmäßiger Wehentätigkeit aufgenommen. Um 19:23 Uhr wurde der Kopf des Säuglings problemlos geboren. Da sich die Schultern nicht entwickeln ließen, wurde viermal das Mac Roberts Manöver einschließlich suprasymphärem Druck nach Rubin durchgeführt. Um 19:24 Uhr wurde ein weibliches Neugeborenes vollständig entwickelt. Es wog bei der Geburt 5.210 g. Die Beklagte zu 3) war an dem Tag die diensthabende Stationsärztin, die Beklagte zu 4) die Oberärztin. Die Beklagte zu 5) betreute die Klägerin als Hebamme.
Die Klägerin war der Ansicht, die Lösung der Schulterdystokie unter der Geburt sei nicht ordnungsgemäß erfolgt. Im Vorfeld der Geburt sei es durch die Beklagten schuldhaft unterlassen worden, erforderliche Befunde - insbesondere zum Geburtsgewicht - zu erheben. Bei ordnungsgemäßer Befunderhebung hätte ein Kaiserschnitt durchgeführt werden müssen. Das Kind leide fehlerbedingt unter einer dauerhaften Lähmung des rechten Armes und wegen eines Sauerstoffmangels bei der Geburt unter Entwicklungsverzögerungen. Die Klägerin selbst leide unter Ängsten und Depressionen.
.
Die Klägerin forderte mind. 100.000 € Schmerzensgeld für ihre Tochter und mind. 10.000 € für sich. Das LG verurteilte die Beklagten zu 1), 3) und 4 als Gesamtschuldner zur Zahlung eines Schmerzensgeldes von 70.000 € an das Kind und von 4.000 € an die Klägerin. Das OLG erhöhte im Berufungsverfahren auf 75.000 € bzw. 4.500 €.
Die Gründe:
Die Klägerin hat gegen die Beklagte zu 1) einen Anspruch aus §§ 823 Abs.1, 249, 253 Abs.2 BGB auf Schmerzensgeld und Feststellung der künftigen Haftung. Der Anspruch gilt nicht gegen die Beklagten zu 3) und 4). Ihnen konnte für die Entbindung am 10.2.2014 kein Behandlungsfehler zur Lastgelegt werden. Der in zweiter Instanz eingeschaltete Sachverständige hat die Notwendigkeit einer erneuten Sonografie zur Schätzung des Geburtsgewichtes für den 10.02.2014 bei Aufnahme der Klägerin und auch im weiteren Verlauf der Geburtsbetreuung explizit verneint.
Vielmehr entsprach die am 6.2.2014 vorgenommene Ultraschalluntersuchung nicht dem Facharztstandard, sondern war fehlerhaft. Das fehlerhaft ermittelte Schätzgewicht von 3.299 g, das unterhalb des im Haus der Beklagten zu 1) am 16.1.2014 geschätzten Wertes von 3.475 g lag, hätte die behandelnde Ärztin dazu veranlassen müssen, eine erneute Fetometrie entweder selbst durchzuführen oder von einem anderen Arzt durchführen zu lassen. Dies sei laut Sachverständigen ein Standardvorgehen.
Die in zweifacher Hinsicht technisch fehlerhafte Durchführung der Ultraschallmessung verbunden mit der Unterlassung einer weiteren Ultraschalluntersuchung, die den nicht mit einem zu erwartenden Wachstum des Kindes übereinstimmenden zweiten Messwert überprüfte, war insgesamt sogar als grober Befunderhebungsfehler zu qualifizieren. Ein solcher liegt vor, wenn der Arzt oder das medizinische Personal eindeutig gegen bewährte Behandlungsregeln oder gesicherte medizinische Erkenntnisse verstoßen und einen Fehler begangen hat, der aus objektiver Sicht nicht mehr verständlich erscheint, weil er einem Arzt bzw. dem medizinischen Personal schlechterdings nicht unterlaufen darf. Dabei handelt es sich um eine juristische Wertung, die dem Tatrichter und nicht dem Sachverständigen obliegt. Diese muss jedoch in vollem Umfang durch die vom ärztlichen Sachverständigen mitgeteilten Fakten getragen werden und sich auf die medizinische Bewertung des Behandlungsgeschehens durch den Sachverständigen stützen können.
Das Unterlassen der gebotenen Befunderhebung mit der Konsequenz, dass eine Aufklärung über die Notwendigkeit eines primären Kaiserschnitts und ein primärer Kaiserschnitt nicht erfolgt sind, hat dazu geführt, dass das Kind eine Lähmung erlitten hat. Bei einem primären Kaiserschnitt wäre das Risiko einer solchen so gering gewesen, dass sich dessen Verwirklichung im Rahmen der Beweiswürdigung als theoretische und unbeachtliche Möglichkeit dargestellt hat. Ohnehin gingen Zweifel infolge der sich aus dem groben Behandlungsfehler ergebenden Beweislastumkehr zu Lasten der Beklagten zu 1).
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Justiz NRW
Die Klägerin hatte 2003 und 2005 zwei Kinder auf natürlichem Weg entbunden. In beiden Schwangerschaften litt sie an Gestationsdiabetes. Die Kinder hatten ein Geburtsgewicht von 3.680 g bzw. 3.780 g. Auch bei der dritten Schwangerschaft 2013 wurde Gestationsdiabetes festgestellt. Am 16.1.2014 (36+1 SSW) stellte sich die Klägerin erstmals im Krankenhaus der Beklagten zu 1) zur Geburtsplanung und Untersuchung vor und wurde vom Beklagten zu 2) untersucht. Dieser führte eine Ultraschalluntersuchung durch und schätzte das Gewicht des Fötus auf 3.475 g. Die Größe der Klägerin wurde mit 160 cm, ihr Gewicht mit 104,2 kg festgehalten. Der Beklagte zu 2) ist Chefarzt der gynäkologischen Abteilung der Beklagten zu 1).
Es erfolgte eine ausführliche Aufklärung hinsichtlich der verschiedenen Formen des Gestationsdiabetes und ihre Bedeutung für die Betreuung in der Schwangerschaft und für die Entbindung. Auch dem Ehemann der Klägerin wurden die erhobenen Befunde erläutert, insbesondere die Bedeutung der Makrosomie (Großwuchs des Fötus). Die Klägerin befand sich vom 5.2. bis 7.2.2014 täglich in ärztlicher Behandlung, mit jeweils unauffälligem Ergebnis. Am 6.2.2014 wurde erneut ein Ultraschall durchgeführt. Das Gewicht des Fötus wurde auf 3.299 g +/-500 g geschätzt.
Am 10.2.2014 nachmittags wurde die Klägerin stationär von der Beklagten zu 1) bei regelmäßiger Wehentätigkeit aufgenommen. Um 19:23 Uhr wurde der Kopf des Säuglings problemlos geboren. Da sich die Schultern nicht entwickeln ließen, wurde viermal das Mac Roberts Manöver einschließlich suprasymphärem Druck nach Rubin durchgeführt. Um 19:24 Uhr wurde ein weibliches Neugeborenes vollständig entwickelt. Es wog bei der Geburt 5.210 g. Die Beklagte zu 3) war an dem Tag die diensthabende Stationsärztin, die Beklagte zu 4) die Oberärztin. Die Beklagte zu 5) betreute die Klägerin als Hebamme.
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Vielmehr entsprach die am 6.2.2014 vorgenommene Ultraschalluntersuchung nicht dem Facharztstandard, sondern war fehlerhaft. Das fehlerhaft ermittelte Schätzgewicht von 3.299 g, das unterhalb des im Haus der Beklagten zu 1) am 16.1.2014 geschätzten Wertes von 3.475 g lag, hätte die behandelnde Ärztin dazu veranlassen müssen, eine erneute Fetometrie entweder selbst durchzuführen oder von einem anderen Arzt durchführen zu lassen. Dies sei laut Sachverständigen ein Standardvorgehen.
Die in zweifacher Hinsicht technisch fehlerhafte Durchführung der Ultraschallmessung verbunden mit der Unterlassung einer weiteren Ultraschalluntersuchung, die den nicht mit einem zu erwartenden Wachstum des Kindes übereinstimmenden zweiten Messwert überprüfte, war insgesamt sogar als grober Befunderhebungsfehler zu qualifizieren. Ein solcher liegt vor, wenn der Arzt oder das medizinische Personal eindeutig gegen bewährte Behandlungsregeln oder gesicherte medizinische Erkenntnisse verstoßen und einen Fehler begangen hat, der aus objektiver Sicht nicht mehr verständlich erscheint, weil er einem Arzt bzw. dem medizinischen Personal schlechterdings nicht unterlaufen darf. Dabei handelt es sich um eine juristische Wertung, die dem Tatrichter und nicht dem Sachverständigen obliegt. Diese muss jedoch in vollem Umfang durch die vom ärztlichen Sachverständigen mitgeteilten Fakten getragen werden und sich auf die medizinische Bewertung des Behandlungsgeschehens durch den Sachverständigen stützen können.
Das Unterlassen der gebotenen Befunderhebung mit der Konsequenz, dass eine Aufklärung über die Notwendigkeit eines primären Kaiserschnitts und ein primärer Kaiserschnitt nicht erfolgt sind, hat dazu geführt, dass das Kind eine Lähmung erlitten hat. Bei einem primären Kaiserschnitt wäre das Risiko einer solchen so gering gewesen, dass sich dessen Verwirklichung im Rahmen der Beweiswürdigung als theoretische und unbeachtliche Möglichkeit dargestellt hat. Ohnehin gingen Zweifel infolge der sich aus dem groben Behandlungsfehler ergebenden Beweislastumkehr zu Lasten der Beklagten zu 1).
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