07.06.2022

Haftung der Hersteller von Fahrzeugen mit unzulässigen Abschalteinrichtungen

Erwerber von Diesel-Fahrzeugen mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung müssen einen Ersatzanspruch gegen den Fahrzeughersteller (hier: Mercedes-Benz Group) haben. Es ist Sache der Mitgliedstaaten, die Methoden für die Berechnung eines solchen Ersatzanspruchs festzulegen, jedoch unter der Voraussetzung, dass dieser Ersatz in Anwendung des Effektivitätsgrundsatzes dem erlittenen Schaden angemessen ist.

EuGH, C-100/21: Schlussanträge des Generalanwalts vom 2.6.2022
Der Käufer eines gebrauchten Mercedes C 220 CDI, dessen Abgasrückführungssystem ein "Thermofenster" vorsieht, erhob gegen den Hersteller Mercedes-Benz beim LG Ravensburg (Deutschland) Klage auf Schadensersatz. Durch das Thermofenster wird die Abgasrückführung bei kühleren Außentemperaturen reduziert, was zu einer Erhöhung der Stickoxidemissionen (NOx) führt.

Nach der vorläufigen Einschätzung des LG stellt das in Rede stehende Thermofenster eine unzulässige Abschalteinrichtung im Sinne des Unionsrechts dar, da es offenbar nicht darauf abzielt, den Motor vor unmittelbaren Beschädigungsrisiken zu schützen, die zu einer konkreten Gefahr während des Betriebs des Fahrzeugs führen, sondern nur, den Verschleiß des Motors zu verhindern.

Das LG fragte den EuGH, ob das Unionsrecht dem individuellen Erwerber eines Fahrzeugs, das mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung ausgestattet ist, einen Ersatzanspruch aufgrund deliktischer Haftung gegen den Fahrzeughersteller einräumt, und zwar auch bei einfacher Fahrlässigkeit. Mercedes-Benz scheint nämlich nicht vorsätzlich gehandelt zu haben. Im vorliegenden Fall würde eine solche Haftung nach deutschem Recht voraussetzen, dass die Unionsregelung über die EG-Typgenehmigung, nach der solche Abschalteinrichtungen verboten sind, auch darauf abzielt, die Interessen eines individuellen Erwerbers zu schützen.

Für den Fall, dass dies bejaht wird, möchte das LG wissen, wie dieser Ersatzanspruch zu berechnen ist, und insbesondere, ob der Vorteil, den der Käufer aus der Nutzung des Fahrzeugs gezogen hat, auf die Erstattung des Kaufpreises des Fahrzeugs angerechnet werden muss.

In seinen Schlussanträgen schlägt Generalanwalt Athanasios Rantos dem EuGH vor, erstens zu antworten, dass die Unionsregelung über die EG-Typgenehmigung die Interessen eines individuellen Erwerbers eines Fahrzeugs, insbesondere das Interesse, kein Fahrzeug mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung zu erwerben, schützt. Mit der EG-Übereinstimmungsbescheinigung versichere der Hersteller dem Erwerber nämlich, dass das von ihm erworbene Fahrzeug die Anforderungen des Unionsrechts erfüllt.

Zweitens schlägt der Generalanwalt vor, zu entscheiden, dass das Unionsrecht die Mitgliedstaaten verpflichtet, vorzusehen, dass der Erwerber eines Fahrzeugs einen Ersatzanspruch gegen den Fahrzeughersteller hat, wenn dieses Fahrzeug mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung ausgestattet ist. Hierfür müssten die Mitgliedstaaten wirksame, verhältnismäßige und abschreckende Sanktionen verhängen.

Was drittens die Berechnung des Ersatzes betrifft, ist es nach Ansicht von Generalanwalt Rantos Sache der Mitgliedstaaten, die Regeln für die Art und Weise dieser Berechnung festzulegen. Allerdings muss dieser Ersatz in Anwendung des vom Unionsrecht vorgesehenen Effektivitätsgrundsatzes dem erlittenen Schaden angemessen sein.

Im vorliegenden Fall muss das LG Ravensburg prüfen, inwieweit die Anrechnung des Nutzungsvorteils für die tatsächliche Nutzung des Fahrzeugs - unter normalen Nutzungsbedingungen des Fahrzeugs - auf die Erstattung des Kaufpreises dieses Fahrzeugs für den Käufer eine angemessene Entschädigung gewährleisten würde.

Insoweit sei es nicht Sache des EuGH, zu entscheiden, ob der aus der Nutzung des Fahrzeugs gezogene Vorteil am vollen Kaufpreis des Fahrzeugs zu bemessen ist, ohne dass wegen des aus der Ausstattung mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung resultierenden Minderwerts des Fahrzeugs und/oder im Hinblick auf die Nutzung eines nicht unionsrechtskonformen Fahrzeugs ein Abzug vorgenommen wird.

In Bezug auf einen Aspekt des deutschen Zivilprozessrechts ist, hilfsweise, der Generalanwalt der Auffassung, dass das Unionsrecht einer nationalen Regelung entgegensteht, die, wenn ein Einzelrichter meint, dass sich im Rahmen einer bei ihm anhängigen Rechtssache eine Frage nach der Auslegung oder der Gültigkeit des Unionsrechts stellt, die eine Entscheidung des EuGH erfordert, diesem vorschreibt, diese Frage einer Zivilkammer vorzulegen und er folglich daran gehindert ist, den EuGH um Vorabentscheidung zu ersuchen.

Mehr zum Thema:
EuGH PM Nr. 95 vom 2.6.2022
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