07.10.2024

Haftungsquote eines Linksabbiegers bei der Kollision mit einem überholenden und zu schnell fahrenden Motorrad

Wenn sich ein Unfall im unmittelbaren örtlichen und zeitlichen Zusammenhang mit einem Linksabbiegevorgang ereignet, spricht der Anschein dafür, dass der Linksabbieger die ihm obliegenden Sorgfaltsanforderungen, insbesondere die doppelte Rückschaupflicht, nicht ausreichend beachtet hat. Es genügt nicht, den rückwärtigen Verkehr nur über den Spiegel zu kontrollieren.

OLG Schleswig-Holstein v. 1.10.2024 - 7 U 145/23
Der Sachverhalt:
Am Vormittag des 17.6.2018 war der Zeuge C. mit seinem bei der Beklagten haftpflichtversicherten Fahrzeug auf einer Bundesstraße unterwegs. Er beabsichtigte nach links in eine Straße einzubiegen. Der Kläger fuhr mit seinem Motorrad der Marke Honda CBR 900 Fireblade SC 33 hinter dem Beklagtenfahrzeug und setzte zum Überholen an. Hierdurch kam es zum Unfall, bei dem heute 50-jährige Kläger u.a. eine Sprengung des Schultergelenks links erlitten hat und stationär sowie ambulant behandelt werden musste. Die Bewegungsfähigkeit der Schulter ist dauerhaft beeinträchtigt. Der Kläger kann den linken Arm nicht mehr über die Horizontalebene heben. Der Kläger ist Linkshänder und hat vor dem Unfall als Maler bei einer dänischen Zeitarbeitsfirma gearbeitet. Seit Dezember 2018 bezieht er Leistungen vom Jobcenter.

Das LG hat der Klage auf Basis einer Haftungsverteilung von 80 % zu 20 % zu Lasten der Beklagten stattgegeben. Die Beklagte bestritt weiterhin ihre Haftung, bemängelte die fehlende Einholung eines unfallanalytischen Sachverständigengutachtens und rügte die Schadensberechnung durch das LG. Zur Begründung führte sie aus, es habe fehlerhaft einen Verstoß des Zeugen C. gegen § 9 Abs. 1 StVO angenommen. Dieser habe entgegen den Feststellungen des LG den linken Fahrtrichtungsanzeiger betätigt. Der Fahrtrichtungsanzeiger sei auch rechtzeitig i.S.v. § 9 Abs. 1 Satz 1 StVO betätigt worden.

Auf die Berufung der Beklagten hat das OLG das erstinstanzliche Urteil aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LG zurückverwiesen.

Die Gründe:
Das LG hat den Anspruch der Beklagten auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) verletzt, indem es erheblichen und unter Beweis gestellten Vortrag der Beklagten übergangen hatte. So stellt das unberechtigte Übergehen eines Beweisantrags einen Verstoß gegen die Pflicht zur Gewährung rechtlichen Gehörs dar. Darin liegt zugleich ein wesentlicher Verfahrensmangel. Die Entscheidung bei einem wesentlichen Verfahrensmangel zwischen Zurückverweisung und eigenen Sachentscheidung steht im pflichtgemäßen Ermessen des Berufungsgerichts. Dabei ist insbesondere auch zu berücksichtigen, dass eine Zurückverweisung in aller Regel zu einer Verteuerung und Verzögerung des Rechtsstreites führt und dies den Interessen der Parteien entgegenstehen kann.

Der Kläger hatte eine überhöhte Geschwindigkeit von ca. 55 bis max. 60 km/h zugestanden, eine Geschwindigkeit von mindestens 70 km/h aber ausdrücklich bestritten. Das LG hatte eine Begutachtung zum Unfallgeschehen auch in Aussicht gestellt. Soweit es diesem Beweisangebot dann letztlich nicht nachgegangen war, lag ein wesentlicher Verfahrensfehler und damit zugleich ein Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG vor. Mangelhafte Beweiserhebungen insbesondere i.V.m. der Nichtgewährung rechtlichen Gehörs stellen den wichtigsten Anwendungsfall eines wesentlichen Verfahrensfehlers i.S.v. § 538 Abs. 2 Nr. 1 ZPO dar (Zöller-Hessler, ZPO, 35. Aufl., § 538, Rn. 25 und 28). Die Sache war deshalb an das LG zurückzuverweisen.

Zur Quotenbildung nach Ermittlung der Verursachungsanteile weist der Senat auf Folgendes hin:

Zu Lasten der Beklagten ging zwar bereits der Anscheinsbeweis der Unfallverursachung durch ein Fehlverhalten beim Linksabbiegen. Soweit sich ein Unfall im unmittelbaren örtlichen und zeitlichen Zusammenhang mit einem Linksabbiegevorgang ereignet, spricht nach aller Lebenserfahrung vieles dafür (Anscheinsbeweis), dass der Linksabbieger die ihm nach § 9 Abs. 1 StVO obliegenden Sorgfaltsanforderungen, insbesondere die doppelte Rückschaupflicht, nicht ausreichend beachtet hat. Es genügt nicht, den rückwärtigen Verkehr nur über den Spiegel zu kontrollieren.

Zu Lasten des Klägers ging jedoch der von ihm zugestandene Verstoß gegen § 3 StVO. Schon dieser Umstand führte dazu, dass die zu seinen Lasten festzusetzende Quote nicht i.H.d. einfachen Betriebsgefahr von 20% festgesetzt werden durfte, sondern mindestens 30% betragen muss. Zudem könnte, je nach dem Ergebnis des noch einzuholenden unfallanalytischen Gutachtens, eine noch höhere Ausgangsgeschwindigkeit des Motorrads, ein mangelnder Sicherheitsabstand nach § 3 Abs. 1 Satz 4 StVO sowie ein Verstoß gegen § 5 Abs. 3 StVO bewiesen werden.

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