Kinder beim Arzt: Behandlungsvertrag kommt idR zwischen den Eltern und dem Arzt als Vertrag zugunsten Dritter zustande
BGH v. 12.5.2022 - III ZR 78/21
Der Sachverhalt:
Die Klägerin, die eine Praxis u.a. für Ergotherapie betreibt, nimmt die Beklagte auf Zahlung einer Ausfallpauschale für zwei kurzfristig abgesagte Behandlungstermine in Anspruch. Laut Anmeldeformular, welches die Beklagte unterschrieben hat, soll die Ausfallpauschale i.H.v. 25,- € pro Termin fällig werden, wenn dieser nicht mindestens 24 Stunden vorher abgesagt wird.
Die Beklagte sagte die für den 23.3.2020 angesetzten Termine für ihre beiden Kinder (7 und 5 Jahre alt) kurzfristig ab, weil in der Nacht vor dem Termin bei einem Kind Hals- und Kopfschmerzen sowie Fieber aufgetreten waren.
Das AG verurteilte die Beklagte antragsgemäß zur Zahlung von 50,- €. Die Berufung der Beklagten blieb erfolglos.
Die Revision vor dem BGH hatte Erfolg. Das Urteil des Berufungsgerichts wurde aufgehoben und die Klage abgewiesen.
Die Gründe:
Der geltend gemachte Zahlungsanspruch der Klägerin ergibt sich weder aus der Vereinbarung einer Ausfallpauschale in den Anmeldeformularen noch aus § 615 Satz 1 i.V.m. § 630a Abs. 1 BGB, da der ergotherapeutischen Behandlung der beiden Kinder der Beklagten am 23.3.2020 ein auf der Coronaschutzverordnung vom 22.3.2020 beruhendes gesetzliches Verbot entgegenstand, so dass die Klägerin zur Leistungserbringung nicht imstande war und die Beklagte nicht in Annahmeverzug geriet (§ 297 BGB).
Das Berufungsgericht hat allerdings zu Recht angenommen, dass die Beklagte die beiden der ergotherapeutischen Behandlung zugrunde liegenden Verträge, die medizinische Leistungen i.S.v. § 630a Abs. 1 BGB betrafen (vgl. § 124 Abs. 1 SGB V), nicht gemäß § 1629 Abs. 1 BGB als gesetzliche Vertreterin ihrer minderjährigen Kinder, sondern gemäß § 328 Abs. 1 BGB zu deren Gunsten im eigenen Namen mit der Klägerin abgeschlossen hat. Dabei kann offenbleiben, ob die Kinder der Beklagten im Zeitpunkt des jeweiligen Vertragsschlusses privat oder gesetzlich krankenversichert waren.
Wird ein minderjähriges Kind von seinen Eltern in einer Arztpraxis - oder wie hier in einer Praxis für Ergotherapie - zur medizinischen Behandlung vorgestellt, kommt der Behandlungsvertrag in der Regel zwischen den Eltern und dem Behandelnden als Vertrag zugunsten des Kindes zustande (§§ 630a, 328 BGB). Aus einem solchen Behandlungsvertrag werden, soweit sich nicht aus den Umständen etwas anderes ergibt, die Eltern berechtigt und verpflichtet (vgl. BGH v. 28.4.2005 - III ZR 351/04). Der Grund dafür liegt darin, dass die Eltern durch den Vertragsschluss ihrer Personensorgepflicht aus § 1626 BGB nachkommen, dem Kind die nötige Behandlung zu verschaffen.
Auf minderjährige Kinder gesetzlich krankenversicherter Eltern ist diese Begründung zwar nur eingeschränkt übertragbar, weil diesen in der Regel als mitversicherten Familienangehörigen (§ 10 SGB V) eigene Leistungsansprüche in der gesetzlichen Krankenversicherung zustehen, die sie selbst und unabhängig von dem Stammversicherten geltend machen können. Daraus folgt jedoch nicht, dass ein Vertrag zugunsten eines gesetzlich krankenversicherten Minderjährigen ausgeschlossen ist. Auch in diesem Fall ist der Behandlungsanspruch gegen den behandelnden Arzt privatrechtlicher Natur (vgl. BGH v. 8.10.2020 - III ZR 80/20), so dass er auch im Rahmen eines Vertrages zugunsten Dritter zugewandt werden kann. Ob das der Fall ist, hängt von den jeweiligen Umständen ab.
Vorliegend entspricht es angesichts des jungen Alters der beiden Kinder im Zeitpunkt der jeweiligen Vertragsschlüsse unabhängig von der Art der Krankenversicherung der Verkehrserwartung, dass der Behandlungsvertrag mit der Beklagten als Erziehungsberechtigter zustande gekommen ist. Aus dem von der Beklagten ausgefüllten und unterschriebenen Anmeldeformular folgt nichts Gegenteiliges. Soweit sie dort im oberen Abschnitt unter der Rubrik "Name gesetzlicher Vertreter" jeweils ihren Namen eingetragen hat, diente das ersichtlich nur der Dokumentation der persönlichen Daten ihrer minderjährigen Kinder. Dass die Beklagte den jeweiligen Behandlungsvertrag im eigenen Namen abschließen wollte, wird auch daran deutlich, dass sie das Formular in der Unterschriftenzeile jeweils ohne Vertreterzusatz unterschrieben hat.
Die geltend gemachten Ausfallpauschalen ergeben sich weder aus der Vereinbarung in den Anmeldeformularen noch aus § 615 Satz 1 i.V.m. § 630a Abs. 1 BGB. Beide Anspruchsgrundlagen setzen voraus, dass die Beklagte als Gläubigerin der ergotherapeutischen Dienstleistungen durch die Absage der Behandlungstermine in Annahmeverzug i.S.d. §§ 293 ff BGB geraten ist. Dieser konnte nur eintreten, wenn die Klägerin als Schuldnerin der Behandlung zum vereinbarten Behandlungszeitpunkt zur Leistungserbringung imstande war. Daran fehlte es am 23.3.2020, weil die in § 7 Abs. 3 Satz 2 der Coronaschutzverordnung vom 22.3.2020 bestimmten Maßgaben zum Schutz vor Neuinfizierungen mit dem Coronavirus u.a. in Ergotherapiepraxen - durch ärztliches Attest nachgewiesene medizinische Notwendigkeit der Behandlung und strenge Schutzmaßnahmen vor Infektionen - nicht erfüllt waren. Der Umstand, dass die Beklagte die ihr obliegende kalendermäßig bestimmte Mitwirkungshandlung - die Übergabe ihrer Kinder an die Klägerin zur Behandlung zu den vereinbarten Zeitpunkten - nicht vorgenommen hat, wirkt sich daher nicht zu ihrem Nachteil aus.
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Entscheidung des BGH im Volltext:
BGH v. 12.5.2022 - III ZR 78/21
Aufsatz:
Kindschaftsrecht und Covid-19-Impfung,
FuR 2022, 68
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Die Klägerin, die eine Praxis u.a. für Ergotherapie betreibt, nimmt die Beklagte auf Zahlung einer Ausfallpauschale für zwei kurzfristig abgesagte Behandlungstermine in Anspruch. Laut Anmeldeformular, welches die Beklagte unterschrieben hat, soll die Ausfallpauschale i.H.v. 25,- € pro Termin fällig werden, wenn dieser nicht mindestens 24 Stunden vorher abgesagt wird.
Die Beklagte sagte die für den 23.3.2020 angesetzten Termine für ihre beiden Kinder (7 und 5 Jahre alt) kurzfristig ab, weil in der Nacht vor dem Termin bei einem Kind Hals- und Kopfschmerzen sowie Fieber aufgetreten waren.
Das AG verurteilte die Beklagte antragsgemäß zur Zahlung von 50,- €. Die Berufung der Beklagten blieb erfolglos.
Die Revision vor dem BGH hatte Erfolg. Das Urteil des Berufungsgerichts wurde aufgehoben und die Klage abgewiesen.
Die Gründe:
Der geltend gemachte Zahlungsanspruch der Klägerin ergibt sich weder aus der Vereinbarung einer Ausfallpauschale in den Anmeldeformularen noch aus § 615 Satz 1 i.V.m. § 630a Abs. 1 BGB, da der ergotherapeutischen Behandlung der beiden Kinder der Beklagten am 23.3.2020 ein auf der Coronaschutzverordnung vom 22.3.2020 beruhendes gesetzliches Verbot entgegenstand, so dass die Klägerin zur Leistungserbringung nicht imstande war und die Beklagte nicht in Annahmeverzug geriet (§ 297 BGB).
Das Berufungsgericht hat allerdings zu Recht angenommen, dass die Beklagte die beiden der ergotherapeutischen Behandlung zugrunde liegenden Verträge, die medizinische Leistungen i.S.v. § 630a Abs. 1 BGB betrafen (vgl. § 124 Abs. 1 SGB V), nicht gemäß § 1629 Abs. 1 BGB als gesetzliche Vertreterin ihrer minderjährigen Kinder, sondern gemäß § 328 Abs. 1 BGB zu deren Gunsten im eigenen Namen mit der Klägerin abgeschlossen hat. Dabei kann offenbleiben, ob die Kinder der Beklagten im Zeitpunkt des jeweiligen Vertragsschlusses privat oder gesetzlich krankenversichert waren.
Wird ein minderjähriges Kind von seinen Eltern in einer Arztpraxis - oder wie hier in einer Praxis für Ergotherapie - zur medizinischen Behandlung vorgestellt, kommt der Behandlungsvertrag in der Regel zwischen den Eltern und dem Behandelnden als Vertrag zugunsten des Kindes zustande (§§ 630a, 328 BGB). Aus einem solchen Behandlungsvertrag werden, soweit sich nicht aus den Umständen etwas anderes ergibt, die Eltern berechtigt und verpflichtet (vgl. BGH v. 28.4.2005 - III ZR 351/04). Der Grund dafür liegt darin, dass die Eltern durch den Vertragsschluss ihrer Personensorgepflicht aus § 1626 BGB nachkommen, dem Kind die nötige Behandlung zu verschaffen.
Auf minderjährige Kinder gesetzlich krankenversicherter Eltern ist diese Begründung zwar nur eingeschränkt übertragbar, weil diesen in der Regel als mitversicherten Familienangehörigen (§ 10 SGB V) eigene Leistungsansprüche in der gesetzlichen Krankenversicherung zustehen, die sie selbst und unabhängig von dem Stammversicherten geltend machen können. Daraus folgt jedoch nicht, dass ein Vertrag zugunsten eines gesetzlich krankenversicherten Minderjährigen ausgeschlossen ist. Auch in diesem Fall ist der Behandlungsanspruch gegen den behandelnden Arzt privatrechtlicher Natur (vgl. BGH v. 8.10.2020 - III ZR 80/20), so dass er auch im Rahmen eines Vertrages zugunsten Dritter zugewandt werden kann. Ob das der Fall ist, hängt von den jeweiligen Umständen ab.
Vorliegend entspricht es angesichts des jungen Alters der beiden Kinder im Zeitpunkt der jeweiligen Vertragsschlüsse unabhängig von der Art der Krankenversicherung der Verkehrserwartung, dass der Behandlungsvertrag mit der Beklagten als Erziehungsberechtigter zustande gekommen ist. Aus dem von der Beklagten ausgefüllten und unterschriebenen Anmeldeformular folgt nichts Gegenteiliges. Soweit sie dort im oberen Abschnitt unter der Rubrik "Name gesetzlicher Vertreter" jeweils ihren Namen eingetragen hat, diente das ersichtlich nur der Dokumentation der persönlichen Daten ihrer minderjährigen Kinder. Dass die Beklagte den jeweiligen Behandlungsvertrag im eigenen Namen abschließen wollte, wird auch daran deutlich, dass sie das Formular in der Unterschriftenzeile jeweils ohne Vertreterzusatz unterschrieben hat.
Die geltend gemachten Ausfallpauschalen ergeben sich weder aus der Vereinbarung in den Anmeldeformularen noch aus § 615 Satz 1 i.V.m. § 630a Abs. 1 BGB. Beide Anspruchsgrundlagen setzen voraus, dass die Beklagte als Gläubigerin der ergotherapeutischen Dienstleistungen durch die Absage der Behandlungstermine in Annahmeverzug i.S.d. §§ 293 ff BGB geraten ist. Dieser konnte nur eintreten, wenn die Klägerin als Schuldnerin der Behandlung zum vereinbarten Behandlungszeitpunkt zur Leistungserbringung imstande war. Daran fehlte es am 23.3.2020, weil die in § 7 Abs. 3 Satz 2 der Coronaschutzverordnung vom 22.3.2020 bestimmten Maßgaben zum Schutz vor Neuinfizierungen mit dem Coronavirus u.a. in Ergotherapiepraxen - durch ärztliches Attest nachgewiesene medizinische Notwendigkeit der Behandlung und strenge Schutzmaßnahmen vor Infektionen - nicht erfüllt waren. Der Umstand, dass die Beklagte die ihr obliegende kalendermäßig bestimmte Mitwirkungshandlung - die Übergabe ihrer Kinder an die Klägerin zur Behandlung zu den vereinbarten Zeitpunkten - nicht vorgenommen hat, wirkt sich daher nicht zu ihrem Nachteil aus.
Entscheidung des BGH im Volltext:
BGH v. 12.5.2022 - III ZR 78/21
Aufsatz:
Kindschaftsrecht und Covid-19-Impfung,
FuR 2022, 68
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