09.09.2021

Mehr Rechtsschutz gegen die Unterbringung in einer Kinder- und Jugendpsychiatrie

Lässt ein Fachgericht bei der Auslegung von Anträgen (hier: auf Aufhebung der Unterbringung in einer Kinder- und Jugendpsychiatrie) Umstände unberücksichtigt, die gegen seine Entscheidung sprechen, verkürzt es dadurch das Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG. So kann etwa eine Erklärung des Beschwerdeführers während seiner Unterbringung, dass er eine zu diesem Zeitpunkt verhandelte Beschwerde auf die Änderung des Klinikortes beschränken wolle, nicht ohne weiteres dahingehend ausgelegt werden, dass er damit die Unterbringung insgesamt "akzeptiert".

BVerfG v. 8.8.2021 - 2 BvR 2000/20
Der Sachverhalt:
Der im Zeitpunkt des fachgerichtlichen Verfahrens 15-jährige Beschwerdeführer war wegen gewaltsamer Konflikte mit seinen Eltern mehrfach im Bezirkskrankenhaus untergebracht. Im Mai 2020 wandte sich der Vater an die Polizei und gab an, sein Sohn verhalte sich aggressiv und habe mit Suizid gedroht. Das Amtsgericht (Familiengericht) genehmigte auf Antrag der Eltern des Beschwerdeführers mit Beschluss vom 13.5.2020 dessen Unterbringung bis längstens zum 23.6.2020 (erster Unterbringungsbeschluss). Mit Beschluss vom 22.6.2020 verlängerte das Gericht in einem gesonderten Verfahren die Unterbringung bis längstens zum 4.8.2020 (zweiter Unterbringungsbeschluss). Das Familiengericht legte die gegen den ersten und zweiten Unterbringungsbeschluss gerichteten Beschwerden dem OLG vor.

Der Beschwerdeführer äußerte gegenüber seinen behandelnden Ärzten mehrfach den Wunsch, sich in einer anderen Klinik behandeln zu lassen. Nach seinen Angaben gaben ihm die Ärzte zu verstehen, sie würden eine Verlegung nur veranlassen, wenn er seine Beschwerde gegen den zweiten Unterbringungsbeschluss zurücknehme oder auf die Änderung des Klinikortes beschränke. Am 15.7.2020 schickte der Beschwerdeführer unter ausschließlicher Nennung der Aktenzeichen der Verfahren zum zweiten Unterbringungsbeschluss eine Erklärung an das OLG: Er halte die Verlegung für äußerst wichtig; eine solche sei nach Auskunft der behandelnden Ärzte jedoch nur am  Folgetag möglich. Daher nahm er seine Beschwerde gegen den Beschluss des Amtsgerichts unter der "Kondition" zurück, dass der Beschluss auf eine geschlossene jugendpsychiatrische Einrichtung geändert werde. Das OLG änderte den zweiten Unterbringungsbeschluss daraufhin entsprechend ab.

Zeitgleich traf das OLG wegen der Beschwerde gegen den ersten Unterbringungsbeschluss lediglich eine Kostenentscheidung mit der Begründung, das erste Verfahren habe sich durch Zeitablauf erledigt. Der Beschwerdeführer beantragte im September 2020 beim OLG erfolglos die Feststellung der Rechtswidrigkeit des ersten Unterbringungsbeschlusses. Das Gericht führte im Beschluss vom 26.10.2020 zur Begründung aus, der Beschwerdeführer habe keinen Feststellungsantrag "vor der abschließenden Entscheidung des Senats" gestellt. Der Antrag sei daher als Gegenvorstellung auszulegen; diese sei jedoch mangels Feststellungsinteresses unbegründet. Durch die Rücknahme der Beschwerde gegen den zweiten Unterbringungsbeschluss habe der Beschwerdeführer "letztendlich die Unterbringung akzeptiert".

Auf die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers hat das BVerfG den Beschluss des OLG vom 26.10.2020 aufgehoben und die Sache zurückverwiesen.

Die Gründe:
Es bestehen bereits Zweifel daran, ob das OLG den Antrag des Beschwerdeführers als Gegenvorstellung deuten durfte oder den Antrag als rechtsschutzintensiveren isolierten Feststellungsantrag hätte zulassen müssen.

Jedenfalls verletzt der angegriffene Beschluss des OLG den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG. Das OLG hat festgestellt, die Gegenvorstellung sei wegen fehlenden Feststellungsinteresses "jedenfalls unbegründet", weil der Beschwerdeführer durch die Rücknahme der Beschwerde gegen den zweiten Unterbringungsbeschluss "letztendlich die Unterbringung" akzeptiert habe. Das OLG hat dabei allerdings das konkrete Rechtsschutzziel des Beschwerdeführers in Bezug auf den ersten Unterbringungsbeschluss nicht hinreichend ermittelt. Es hat sich nicht mit dem Inhalt und Kontext der Erklärung des Beschwerdeführers auseinandergesetzt und nicht nachvollziehbar aufgezeigt, dass die Erklärungsaussage des Schreibens vom 15.7.2020 nach dem Willen des Beschwerdeführers für beide Verfahren gelten sollte und das Rechtsschutzziel jeweils identisch war.

Die Erklärung des Beschwerdeführers bezog sich schon ihrem Wortlaut nach sowie ausweislich der angegebenen Aktenzeichen ausschließlich auf das Beschwerdeverfahren zum zweiten Unterbringungsbeschluss. Zudem erfolgte die Unterbringung aufgrund des ersten Unterbringungsbeschlusses in der Klinik, aus der der Beschwerdeführer verlegt werden wollte. Vieles spricht dafür, dass er auch während des ersten Zeitraums gerade nicht mit der Unterbringung einverstanden war.

Zudem bestehen Anhaltspunkte dafür, dass sich der Beschwerdeführer bei Abgabe der Erklärung aufgrund der Aussagen seiner behandelnden Ärzte in einer Drucksituation befand. Es erscheint naheliegend, dass er sich diesem Druck beugte und die Erklärung das Ziel verfolgte, wenigstens die Verlegung in eine andere Klinik zu erreichen. Ein Rechtsmittelverzicht für das erste Unterbringungsverfahren liegt jedenfalls nicht auf der Hand.

Mehr zum Thema:
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BVerfG PM Nr. 80 vom 8.9.2021
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