Nachträgliche Zulassung der Berufung aufgrund Anhörungsrüge gem. § 321a ZPO
BGH v. 30.7.2024 - VI ZB 115/21
Der Sachverhalt:
Der Kläger nimmt den beklagten Haftpflichtversicherer auf Zahlung von restlichem Schadensersatz nach einem Verkehrsunfall in Anspruch. Der Pkw des Klägers wurde bei einem Verkehrsunfall am 8.11.2020 beschädigt. Die volle Haftung des Beklagten dem Grunde nach steht außer Streit. Das Fahrzeug des Klägers ist sicherungsübereignet und der Sicherungsgeber hatte die Schadensersatzansprüche aus dem Verkehrsunfall an den Kläger abgetreten. Der Kläger ließ das Fahrzeug bei einem Vertragshändler reparieren. Die Rechnung weist die Position "Schutzmittel Corona" mit 15 € (netto) aus, zudem werden dort "Schutzmaßnahmen Corona" erwähnt. Der Beklagte regulierte die Rechnung abzgl. eines Betrages von 76 €. Mit seiner Klage macht der Kläger den Restbetrag von 76 € geltend, welchen er mit rd. 59 € den "Schutzmaßnahmen Corona" und rd. 17 € dem "Schutzmaterial Corona" zuordnet.
Das AG ordnete nach Eingang der Klage mit Beschluss vom 18.1.2021 an, dass gem. § 495a ZPO im vereinfachten Verfahren ohne mündliche Verhandlung schriftlich entschieden werden soll. Auf Antrag müsse mündlich verhandelt werden. Die beklagte Partei erhalte eine Frist, innerhalb von zwei Wochen ab Zustellung schriftlich zu dem Vorbringen der Gegenseite Stellung zu nehmen. Eine Entscheidung, insbesondere auch ein Endurteil, gegen das ein Rechtsmittel von Gesetzes wegen nicht möglich sei, § 511 Abs. 2 Nr. 1 ZPO, ergehe nach Ablauf gesetzter und ggf. noch zu setzender Fristen im vereinfachten Verfahren von Amts wegen ohne Bestimmung eines Verkündungstermins.
Mit Urteil vom 12.4.2021 erließ das AG im vereinfachten Verfahren gem. § 495a ZPO ohne mündliche Verhandlung ein Urteil und wies die Klage ab. Die Berufung ließ es nicht zu und führte dazu aus, dass die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung habe und auch die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Berufungsgerichts nicht erforderlich machten. Auf die Anhörungsrüge des Klägers half das AG mit Beschluss vom 1.6.2021 der Gehörsrüge ab und ordnete an, dass das Verfahren fortgesetzt werde. Aufgrund der abweichenden Entscheidungen innerhalb des AG zu den in Rede stehenden Rechtsfragen solle im Sinne der Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung die Berufung zugelassen werden. Das AG teilte mit, dass beabsichtigt sei, das Verfahren erneut durch Urteil zu entscheiden, dieses solle inhaltlich nur insoweit von dem ersten Urteil abweichen, als die Berufung zugelassen werde. Die Parteien erhielten Gelegenheit zur Stellungnahme. Mit Urteil vom 30.7.2021 wies das AG die Klage ab und ließ die Berufung zu. Gegen dieses Urteil legte der Kläger Berufung ein und begründete diese auch fristgerecht. Mit dem angefochtenen Beschluss verwarf das LG die Berufung nach vorausgehendem Hinweis an den Kläger als unzulässig, da die auf die Anhörungsrüge hin ausgesprochene Zulassung der Berufung die Kammer nicht binde, weil sie unter Verstoß gegen die Bindung des AG aus § 318 ZPO erfolgt und unwirksam sei.
Die dagegen gerichtete Rechtsbeschwerde des Klägers hatte vor dem BGH keinen Erfolg.
Die Gründe:
Das LG ist zu Recht zu dem Ergebnis gekommen, dass das AG seine bewusste Entscheidung, die Berufung nicht zuzulassen, verfahrensfehlerhaft aufgrund einer Anhörungsrüge gem. § 321a ZPO geändert hat.
Die Anhörungsrüge des Klägers war zwar gem. § 321a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 ZPO statthaft, weil die Berufungssumme des § 511 Abs. 2 Nr. 1 ZPO nicht erreicht wurde und das AG die Berufung zunächst nicht zugelassen hatte. Auch hat der Kläger die Anhörungsrüge fristgerecht erhoben und eine Verletzung seines Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs ausgeführt.
Zu Recht hat das LG aber die Anhörungsrüge des Klägers nicht für begründet erachtet. Die Anhörungsrüge räumt dem Gericht keine umfassende Abhilfemöglichkeit ein, sondern dient allein der Behebung von Verstößen gegen die grundgesetzliche Garantie des rechtlichen Gehörs. Die unterbliebene Zulassung der Berufung kann für sich genommen den Anspruch auf rechtliches Gehör nicht verletzen, es sei denn, auf die Zulassungsentscheidung bezogener Vortrag der Beteiligten wurde verfahrensfehlerhaft übergangen. Art. 103 Abs. 1 GG soll sichern, dass die Entscheidung frei von Verfahrensfehlern ergeht, die auf mangelnder Kenntnisnahme oder Erwägung des Vortrags beruhen. Sein Schutzbereich ist auf das von dem Gericht einzuhaltende Verfahren, nicht aber auf die Kontrolle der Entscheidung in der Sache gerichtet.
Eine nachträgliche Zulassung der Berufung aufgrund einer Anhörungsrüge gem. § 321a ZPO ist deshalb nur dann ausnahmsweise zulässig, wenn das Verfahren aufgrund eines Gehörsverstoßes gem. § 321a Abs. 5 ZPO fortgesetzt wird und sich erst aus dem anschließend gewährten rechtlichen Gehör ein Grund für die Zulassung ergibt oder wenn das Erstgericht bei seiner ursprünglichen Entscheidung über die Nichtzulassung der Berufung bezogen auf die Zulassungsentscheidung das rechtliche Gehör des späteren Berufungsklägers verletzt hat. An letzterem fehlt es hier.
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Der Kläger nimmt den beklagten Haftpflichtversicherer auf Zahlung von restlichem Schadensersatz nach einem Verkehrsunfall in Anspruch. Der Pkw des Klägers wurde bei einem Verkehrsunfall am 8.11.2020 beschädigt. Die volle Haftung des Beklagten dem Grunde nach steht außer Streit. Das Fahrzeug des Klägers ist sicherungsübereignet und der Sicherungsgeber hatte die Schadensersatzansprüche aus dem Verkehrsunfall an den Kläger abgetreten. Der Kläger ließ das Fahrzeug bei einem Vertragshändler reparieren. Die Rechnung weist die Position "Schutzmittel Corona" mit 15 € (netto) aus, zudem werden dort "Schutzmaßnahmen Corona" erwähnt. Der Beklagte regulierte die Rechnung abzgl. eines Betrages von 76 €. Mit seiner Klage macht der Kläger den Restbetrag von 76 € geltend, welchen er mit rd. 59 € den "Schutzmaßnahmen Corona" und rd. 17 € dem "Schutzmaterial Corona" zuordnet.
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Die dagegen gerichtete Rechtsbeschwerde des Klägers hatte vor dem BGH keinen Erfolg.
Die Gründe:
Das LG ist zu Recht zu dem Ergebnis gekommen, dass das AG seine bewusste Entscheidung, die Berufung nicht zuzulassen, verfahrensfehlerhaft aufgrund einer Anhörungsrüge gem. § 321a ZPO geändert hat.
Die Anhörungsrüge des Klägers war zwar gem. § 321a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 ZPO statthaft, weil die Berufungssumme des § 511 Abs. 2 Nr. 1 ZPO nicht erreicht wurde und das AG die Berufung zunächst nicht zugelassen hatte. Auch hat der Kläger die Anhörungsrüge fristgerecht erhoben und eine Verletzung seines Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs ausgeführt.
Zu Recht hat das LG aber die Anhörungsrüge des Klägers nicht für begründet erachtet. Die Anhörungsrüge räumt dem Gericht keine umfassende Abhilfemöglichkeit ein, sondern dient allein der Behebung von Verstößen gegen die grundgesetzliche Garantie des rechtlichen Gehörs. Die unterbliebene Zulassung der Berufung kann für sich genommen den Anspruch auf rechtliches Gehör nicht verletzen, es sei denn, auf die Zulassungsentscheidung bezogener Vortrag der Beteiligten wurde verfahrensfehlerhaft übergangen. Art. 103 Abs. 1 GG soll sichern, dass die Entscheidung frei von Verfahrensfehlern ergeht, die auf mangelnder Kenntnisnahme oder Erwägung des Vortrags beruhen. Sein Schutzbereich ist auf das von dem Gericht einzuhaltende Verfahren, nicht aber auf die Kontrolle der Entscheidung in der Sache gerichtet.
Eine nachträgliche Zulassung der Berufung aufgrund einer Anhörungsrüge gem. § 321a ZPO ist deshalb nur dann ausnahmsweise zulässig, wenn das Verfahren aufgrund eines Gehörsverstoßes gem. § 321a Abs. 5 ZPO fortgesetzt wird und sich erst aus dem anschließend gewährten rechtlichen Gehör ein Grund für die Zulassung ergibt oder wenn das Erstgericht bei seiner ursprünglichen Entscheidung über die Nichtzulassung der Berufung bezogen auf die Zulassungsentscheidung das rechtliche Gehör des späteren Berufungsklägers verletzt hat. An letzterem fehlt es hier.
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