Offenkundig unrichtige Nichtberücksichtigung eines Bestreitens wegen mangelnder Substantiierung
BGH v. 11.10.2022 - VI ZR 361/21
Der Sachverhalt:
Die Klägerin nimmt die beklagte Inhaberin einer Reitschule und Reitlehrerin nach einem Reitunfall auf Schadensersatz in Anspruch. Die Klägerin nahm bei der Beklagten Reitunterricht. Die erste Reitstunde fand am 12.9.2014 statt, wobei nach einer Einführung ein Longenunterricht in der Halle erfolgte. In der zweiten Reitstunde am 19.9.2014 führte die - zu Fuß gehende - Beklagte die - auf dem Pferd sitzende - Klägerin um eine neben dem Reiterhof liegende Weide, wobei der Weg teilweise an Wohnbebauung angrenzte. Die Beklagte ließ das Pferd auf dem Rundgang teilweise los. Am Rande der Wohnbebauung erschreckte sich das - zu diesem Zeitpunkt nicht von der Beklagten geführte - Pferd durch das Rascheln eines von einer Anwohnerin ausgeschütteten Korbes mit Herbstlaub, so dass es mehrere Galoppsprünge machte, wodurch die Klägerin zu Boden stürzte und sich u.a. durch Frakturen der Brust- und Lendenwirbel erheblich verletzte.
Das LG gab der Klage überwiegend statt. Es erklärte die Klage im Wege eines Grund- und Teilurteils dem Grunde nach für gerechtfertigt, stellte die Ersatzpflicht für alle weiteren materiellen und immateriellen Schäden aus dem Unfallereignis fest, verurteilte die Beklagte zur Zahlung von rd. 33.000 € Verdienstausfallschaden und wies die Klage hinsichtlich des ebenfalls begehrten Haushaltsführungsschadens ab. Die Berufung der Beklagten wies das OLG durch Beschluss gem. § 522 Abs. 2 ZPO zurück. Auf die Nichtzulassungsbeschwerde der Beklagten hob der BGH das Berufungsurteil auf und verwies die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das OLG zurück.
Die Gründe:
Hinsichtlich der Verurteilung auf Zahlung von Verdienstausfallschaden i.H.v. rd. 33.000 € netto nebst Zinsen beruht der angefochtene Beschluss auf einer Verletzung des Anspruchs der Beklagten auf Gewährung rechtlichen Gehörs aus Art. 103 Abs. 1 GG. Das OLG hat offenkundig unrichtig überhöhte Anforderungen an die Substantiierungslast der bestreitenden Beklagten gestellt und damit deren Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs verletzt.
Gem. § 138 Abs. 2 ZPO hat sich eine Partei grundsätzlich über die von dem Gegner behaupteten Tatsachen zu erklären. Der Umfang der erforderlichen Substantiierung richtet sich dabei nach dem Vortrag der darlegungsbelasteten Partei. Je detaillierter dieser ist, desto höher ist die Erklärungslast gem. § 138 Abs. 2 ZPO. Ob ein einfaches Bestreiten als Erklärung gem. § 138 Abs. 2 ZPO ausreicht oder ob ein substantiiertes Bestreiten erforderlich ist, hängt somit von dem Vortrag der Gegenseite ab. Eine Partei genügt bei einem von ihr zur Rechtsverteidigung gehaltenen Sachvortrag ihren Substantiierungspflichten, wenn sie Tatsachen vorträgt, die in Verbindung mit einem Rechtssatz geeignet sind, das von der anderen Seite geltend gemachte Recht als nicht bestehend erscheinen zu lassen. Dabei ist unerheblich, wie wahrscheinlich die Darstellung ist und ob sie auf eigenem Wissen oder auf einer Schlussfolgerung aus Indizien beruht. Genügt das Parteivorbringen diesen Anforderungen an die Substantiierung, kann der Vortrag weiterer Einzeltatsachen, die etwa den Vorgang bestimmter Ereignisse betreffen, nicht verlangt werden.
Dies gilt insbesondere auch, wenn sich in einem Schadensersatzprozess medizinische Fragen stellen. An die Substantiierungspflicht der nicht sachkundigen Partei sind in diesem Fall nur maßvolle Anforderungen zu stellen, weil von ihr regelmäßig keine genaue Kenntnis der medizinischen Vorgänge erwartet und gefordert werden kann und sie nicht verpflichtet ist, sich zur ordnungsgemäßen Prozessführung medizinisches Fachwissen anzueignen. Dies gilt auch für Einwendungen gegen ein gerichtliches Gutachten. Insbesondere ist die Partei berechtigt, ihre Einwendungen gegen das Gutachten zunächst ohne sachverständige Hilfe vorzubringen. Hat eine Partei nur geringe Sachkunde, dürfen somit weder an ihren klagebegründenden Sachvortrag noch an ihre Einwendungen gegen ein Sachverständigengutachten hohe Anforderungen gestellt werden. Die Partei darf sich in diesem Fall auf den Vortrag von ihr zunächst nur vermuteter Tatsachen beschränken. Entsprechend ist eine Beweiserhebung nicht deshalb entbehrlich, weil die unter Beweis gestellten Tatsachen durch ein Privatgutachten belegt sind, dessen Richtigkeit der Gegner bestreitet, ohne die Unzulänglichkeit des Gutachtens substantiiert darzulegen.
Nach diesen Grundsätzen hätte sich das OLG nicht ohne Beweisaufnahme über den Vortrag der Beklagten hinwegsetzen dürfen. Die Beklagte hat den Sachvortrag der Klägerin zur unfallbedingten Dauer ihrer Arbeitsunfähigkeit nicht nur pauschal bestritten, sondern sich sowohl mit der vorgelegten AU-Bescheinigung als auch mit dem vorgelegten Gutachten im Einzelnen auseinandergesetzt. Insbesondere hat die Beklagte die von der Klägerin geltend gemachten Primärverletzungen ausdrücklich anerkannt und die unfallbedingte Arbeitsunfähigkeit für die Zeit der Krankenhausaufenthalte der Klägerin zzgl. einiger Tage unstreitig gestellt. Hinsichtlich der Behauptung einer darüberhinausgehenden, einen Zeitraum von rund 16 weiteren Monaten umfassenden Arbeitsunfähigkeit hat die Beklagte die Unfallursächlichkeit bestritten, auf psychische Vorerkrankungen und nervenärztliche Vorbehandlungen der Klägerin hingewiesen und beanstandet, dass der Gutachter des sozialgerichtlichen Parallelverfahrens den Ursachen der von ihm bei der Klägerin festgestellten Depressionen nicht ordnungsgemäß nachgegangen sei, wobei er dem für die von ihm zu beantwortende sozialgerichtliche Fragestellung womöglich auch nicht habe nachgehen müssen.
Mehr war nicht erforderlich. Auch wenn der Vortrag der Klägerin durch das in dem sozialgerichtlichen Verfahren erstellte, vom OLG nicht nach § 411a ZPO verwertete und damit als Privatgutachten der Klägerin zu qualifizierende psychiatrisch-neurologische Gutachten unterlegt ist, führt dies nicht dazu, dass die Beklagte dem mit auf Expertenwissen beruhendem ebenso detaillierten Sachvortrag entgegentreten muss, um dessen Beweisbedürftigkeit herbeizuführen.
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Die Klägerin nimmt die beklagte Inhaberin einer Reitschule und Reitlehrerin nach einem Reitunfall auf Schadensersatz in Anspruch. Die Klägerin nahm bei der Beklagten Reitunterricht. Die erste Reitstunde fand am 12.9.2014 statt, wobei nach einer Einführung ein Longenunterricht in der Halle erfolgte. In der zweiten Reitstunde am 19.9.2014 führte die - zu Fuß gehende - Beklagte die - auf dem Pferd sitzende - Klägerin um eine neben dem Reiterhof liegende Weide, wobei der Weg teilweise an Wohnbebauung angrenzte. Die Beklagte ließ das Pferd auf dem Rundgang teilweise los. Am Rande der Wohnbebauung erschreckte sich das - zu diesem Zeitpunkt nicht von der Beklagten geführte - Pferd durch das Rascheln eines von einer Anwohnerin ausgeschütteten Korbes mit Herbstlaub, so dass es mehrere Galoppsprünge machte, wodurch die Klägerin zu Boden stürzte und sich u.a. durch Frakturen der Brust- und Lendenwirbel erheblich verletzte.
Das LG gab der Klage überwiegend statt. Es erklärte die Klage im Wege eines Grund- und Teilurteils dem Grunde nach für gerechtfertigt, stellte die Ersatzpflicht für alle weiteren materiellen und immateriellen Schäden aus dem Unfallereignis fest, verurteilte die Beklagte zur Zahlung von rd. 33.000 € Verdienstausfallschaden und wies die Klage hinsichtlich des ebenfalls begehrten Haushaltsführungsschadens ab. Die Berufung der Beklagten wies das OLG durch Beschluss gem. § 522 Abs. 2 ZPO zurück. Auf die Nichtzulassungsbeschwerde der Beklagten hob der BGH das Berufungsurteil auf und verwies die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das OLG zurück.
Die Gründe:
Hinsichtlich der Verurteilung auf Zahlung von Verdienstausfallschaden i.H.v. rd. 33.000 € netto nebst Zinsen beruht der angefochtene Beschluss auf einer Verletzung des Anspruchs der Beklagten auf Gewährung rechtlichen Gehörs aus Art. 103 Abs. 1 GG. Das OLG hat offenkundig unrichtig überhöhte Anforderungen an die Substantiierungslast der bestreitenden Beklagten gestellt und damit deren Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs verletzt.
Gem. § 138 Abs. 2 ZPO hat sich eine Partei grundsätzlich über die von dem Gegner behaupteten Tatsachen zu erklären. Der Umfang der erforderlichen Substantiierung richtet sich dabei nach dem Vortrag der darlegungsbelasteten Partei. Je detaillierter dieser ist, desto höher ist die Erklärungslast gem. § 138 Abs. 2 ZPO. Ob ein einfaches Bestreiten als Erklärung gem. § 138 Abs. 2 ZPO ausreicht oder ob ein substantiiertes Bestreiten erforderlich ist, hängt somit von dem Vortrag der Gegenseite ab. Eine Partei genügt bei einem von ihr zur Rechtsverteidigung gehaltenen Sachvortrag ihren Substantiierungspflichten, wenn sie Tatsachen vorträgt, die in Verbindung mit einem Rechtssatz geeignet sind, das von der anderen Seite geltend gemachte Recht als nicht bestehend erscheinen zu lassen. Dabei ist unerheblich, wie wahrscheinlich die Darstellung ist und ob sie auf eigenem Wissen oder auf einer Schlussfolgerung aus Indizien beruht. Genügt das Parteivorbringen diesen Anforderungen an die Substantiierung, kann der Vortrag weiterer Einzeltatsachen, die etwa den Vorgang bestimmter Ereignisse betreffen, nicht verlangt werden.
Dies gilt insbesondere auch, wenn sich in einem Schadensersatzprozess medizinische Fragen stellen. An die Substantiierungspflicht der nicht sachkundigen Partei sind in diesem Fall nur maßvolle Anforderungen zu stellen, weil von ihr regelmäßig keine genaue Kenntnis der medizinischen Vorgänge erwartet und gefordert werden kann und sie nicht verpflichtet ist, sich zur ordnungsgemäßen Prozessführung medizinisches Fachwissen anzueignen. Dies gilt auch für Einwendungen gegen ein gerichtliches Gutachten. Insbesondere ist die Partei berechtigt, ihre Einwendungen gegen das Gutachten zunächst ohne sachverständige Hilfe vorzubringen. Hat eine Partei nur geringe Sachkunde, dürfen somit weder an ihren klagebegründenden Sachvortrag noch an ihre Einwendungen gegen ein Sachverständigengutachten hohe Anforderungen gestellt werden. Die Partei darf sich in diesem Fall auf den Vortrag von ihr zunächst nur vermuteter Tatsachen beschränken. Entsprechend ist eine Beweiserhebung nicht deshalb entbehrlich, weil die unter Beweis gestellten Tatsachen durch ein Privatgutachten belegt sind, dessen Richtigkeit der Gegner bestreitet, ohne die Unzulänglichkeit des Gutachtens substantiiert darzulegen.
Nach diesen Grundsätzen hätte sich das OLG nicht ohne Beweisaufnahme über den Vortrag der Beklagten hinwegsetzen dürfen. Die Beklagte hat den Sachvortrag der Klägerin zur unfallbedingten Dauer ihrer Arbeitsunfähigkeit nicht nur pauschal bestritten, sondern sich sowohl mit der vorgelegten AU-Bescheinigung als auch mit dem vorgelegten Gutachten im Einzelnen auseinandergesetzt. Insbesondere hat die Beklagte die von der Klägerin geltend gemachten Primärverletzungen ausdrücklich anerkannt und die unfallbedingte Arbeitsunfähigkeit für die Zeit der Krankenhausaufenthalte der Klägerin zzgl. einiger Tage unstreitig gestellt. Hinsichtlich der Behauptung einer darüberhinausgehenden, einen Zeitraum von rund 16 weiteren Monaten umfassenden Arbeitsunfähigkeit hat die Beklagte die Unfallursächlichkeit bestritten, auf psychische Vorerkrankungen und nervenärztliche Vorbehandlungen der Klägerin hingewiesen und beanstandet, dass der Gutachter des sozialgerichtlichen Parallelverfahrens den Ursachen der von ihm bei der Klägerin festgestellten Depressionen nicht ordnungsgemäß nachgegangen sei, wobei er dem für die von ihm zu beantwortende sozialgerichtliche Fragestellung womöglich auch nicht habe nachgehen müssen.
Mehr war nicht erforderlich. Auch wenn der Vortrag der Klägerin durch das in dem sozialgerichtlichen Verfahren erstellte, vom OLG nicht nach § 411a ZPO verwertete und damit als Privatgutachten der Klägerin zu qualifizierende psychiatrisch-neurologische Gutachten unterlegt ist, führt dies nicht dazu, dass die Beklagte dem mit auf Expertenwissen beruhendem ebenso detaillierten Sachvortrag entgegentreten muss, um dessen Beweisbedürftigkeit herbeizuführen.
Rechtsprechung:
Rechtliches Gehör: Gehörsverstoß durch überspannte Substantiierungsanforderungen
BGH vom 07.07.2020 - VI ZR 212/19
Reinhard Greger, MDR 2021, 151
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