02.01.2023

Organisationsverschulden des Prozessbevollmächtigten auf der ersten Stufe der Ausgangskontrolle fristgebundener Schriftsätze

Ein Organisationsverschulden des Prozessbevollmächtigten auf der ersten Stufe der Ausgangskontrolle fristgebundener Schriftsätze (hier: fehlerhafte Streichung der Berufungsbegründungsfrist im Fristenkalender) steht einer Wiedereinsetzung ausnahmsweise dann nicht entgegen, wenn im Rahmen der Büroorganisation durch eine allgemeine Arbeitsanweisung Vorsorge dafür getroffen wurde, dass auf der zweiten Stufe der Ausgangskontrolle bei normalem Verlauf der Dinge die Frist mit Sicherheit gewahrt worden wäre. Versagt diese Kontrolle, ist ein Rückgriff auf ein Anwaltsverschulden auf der ersten Stufe der Ausgangskontrolle ausgeschlossen.

BGH v. 22.11.2022 - XI ZB 13/22
Der Sachverhalt:
Die Parteien streiten um die Wirksamkeit des Widerrufs der auf Abschluss eines Verbraucherdarlehensvertrags gerichteten Willenserklärung des Klägers. Das LG wies die Klage mit Urteil vom 18.6.2021, dem Kläger zugestellt am 23.6.2021, ab. Dagegen legten die Prozessbevollmächtigten des Klägers am 23.7.2021 Berufung ein. Mit Verfügung vom 30.8.2021 wies das OLG den Kläger darauf hin, dass bis zum Ablauf der Berufungsbegründungsfrist am 23.8.2021 keine Begründung eingegangen sei und es deshalb erwäge, die Berufung als unzulässig zu verwerfen.

Daraufhin begründete der Kläger mit Schriftsatz vom 13.9.2021, beim OLG am selben Tag eingegangen, die Berufung und beantragte zugleich Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsbegründungsfrist. Zur Begründung führten die Prozessbevollmächtigten des Klägers aus, dass die Fristen zutreffend in den Papierkalender und den elektronischen Fristenkalender der Kanzlei eingetragen worden seien. In der Kanzlei bestehe die Anweisung, dass sachbearbeitende Rechtsanwaltsfachangestellte selbständig Fristen bearbeiten und diese nach Erledigung auch streichen. Im Papierkalender erfolge die Markierung als erledigt lediglich durch einen Strich durch die eingetragene Frist ohne Kennzeichnung mit einem besonderen Kürzel. Am Abend eines jeden Arbeitstags werde die Erledigung von fristgebundenen Sachen durch die stichprobenartig überprüfte und stets zuverlässige Rechtsanwaltsfachangestellte H anhand des elektronischen Fristenkalenders und des Papierkalenders nochmals selbständig überprüft. Dabei sei gemäß ausdrücklicher Anweisung ggf. anhand der betreffenden Akten auch zu prüfen, ob in einer als erledigt vermerkten Fristsache die fristwahrende Handlung noch ausstehe.

Bei der Fristenkontrolle am 23.8.2021 habe H festgestellt, dass die Frist zur Versendung der Berufungsbegründung bereits gestrichen gewesen sei. Sie sei davon ausgegangen, dass die Berufungsbegründung wie in der Kanzlei üblich zusammen mit der Berufung am 23.7.2021 von einer anderen Rechtsanwaltsfachangestellten versandt worden sei. Dabei habe sie entgegen der bestehenden Arbeitsanweisung versäumt, anhand der betreffenden Akten zu prüfen, ob der fristwahrende Schriftsatz tatsächlich versandt worden sei.

Das OLG wies den Antrag des Klägers auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsbegründungsfrist zurück und verwarf dessen Berufung als unzulässig. Auf die Rechtsbeschwerde des Klägers hob der BGH den Beschluss des OLG auf, gewährte dem Kläger Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsbegründungsfrist und verwies die Sache zur erneuten Entscheidung an das OLG zurück.

Die Gründe:
Das OLG ist zwar zu Recht davon ausgegangen, dass die Frist zur Begründung der Berufung gegen das am 23.6.2021 zugestellte Urteil des LG am 24.8.2021 abgelaufen war, so dass die erst am 13.9.2021 eingereichte Berufungsbegründung an sich verfristet war. Das OLG hat aber den Antrag des Klägers auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsbegründungsfrist zu Unrecht abgelehnt.

Allerdings ist die Annahme des OLG nicht zu beanstanden, dass der Kläger keine näheren Ausführungen zur ersten Stufe der Ausgangskontrolle gemacht hat, von wem, wann und warum die Berufungsbegründungsfrist im Fristenkalender gestrichen worden ist. Dies wird auch von der Rechtsbeschwerde nicht angegriffen. Ein darin liegendes Verschulden ist jedoch für die Versäumung nicht kausal gewesen. Denn nach dem an Eides statt versicherten Vortrag des Klägers ist die Versäumung der Berufungsbegründungsfrist auch auf den zeitlich nachfolgenden Umstand zurückzuführen, dass H auf der zweiten Stufe der Ausgangskontrolle entgegen der bestehenden Arbeitsanweisung es versäumt hat, anhand der betreffenden Akten zu prüfen, ob der fristwahrende Schriftsatz tatsächlich versandt worden ist.

Entgegen der Auffassung des OLG genügt dieser glaubhaft gemachte Sachverhalt, um ein für die Versäumung der Berufungsbegründungsfrist ursächliches Verschulden des Prozessbevollmächtigten des Klägers auszuschließen. Denn ein früheres Verschulden einer Partei oder ihres Prozessbevollmächtigten schließt die Wiedereinsetzung dann nicht aus, wenn seine rechtliche Erheblichkeit durch ein späteres, der Partei oder ihrem Vertreter nicht zuzurechnendes Ereignis entfällt. So liegt der Fall auch hier. Die allabendliche Ausgangskontrolle fristgebundener Schriftsätze durch einen Abgleich mit dem Fristenkalender dient gerade auch der Überprüfung, ob in einer bereits als erledigt vermerkten Fristsache die fristwahrende Handlung möglicherweise noch aussteht. Der Fristenkalender ist daher so zu führen, dass auch eine gestrichene Frist noch erkennbar und bei der Endkontrolle überprüfbar ist. Eine solche zusätzliche Kontrolle ist nach der Rechtsprechung des BGH schon deshalb notwendig, weil selbst bei sachgerechten Organisationsabläufen individuelle Bearbeitungsfehler auftreten können, die es nach Möglichkeit aufzufinden und zu beheben gilt.

Die Büroorganisation der Prozessbevollmächtigten des Klägers genügt diesen die zweite Stufe der Fristenkontrolle betreffenden Anforderungen. Wären diese hier von H eingehalten worden, wäre ihr die fehlerhafte Streichung der Berufungsbegründungsfrist bei normalem Verlauf der Dinge aufgefallen und dieser Bearbeitungsfehler behoben worden, mithin die Berufungsbegründungsfrist mit Sicherheit gewahrt worden. Wegen der überholenden Kausalität bei der Fristenkontrolle auf der zweiten Stufe, die gerade auch individuelle Bearbeitungsfehler auf der ersten Stufe beheben soll, entfällt ein etwaiges Organisationsverschulden der Prozessbevollmächtigten des Klägers im Rahmen der Fristenkontrolle auf der ersten Stufe. Die fehlerhafte, weil entgegen der allgemeinen Büroanweisung erfolgte Bearbeitung der Fristenkontrolle auf der zweiten Stufe durch H ist dem Kläger nicht nach § 85 Abs. 2 ZPO zuzurechnen. Ein Rechtsanwalt darf grundsätzlich darauf vertrauen, dass eine Angestellte, die sich wie hier bisher als zuverlässig erwiesen hat, derartige Weisungen befolgt. Anders ist es, wenn Umstände vorliegen, die dem Rechtsanwalt Anlass geben, an der Umsetzung seiner Arbeitsanweisung durch die Büroangestellte zu zweifeln. Solche Umstände sind hier aber nicht ersichtlich.

Mehr zum Thema:

Kommentierung | ZPO
§ 233 Wiedereinsetzung in den vorigen Stand
Greger in Zöller, Zivilprozessordnung, 34. Aufl. 2022

Kommentierung | ZPO
§ 520 Berufungsbegründung
Heßler in Zöller, Zivilprozessordnung, 34. Aufl. 2022

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