13.06.2023

Pauschalreisen und Covid-19-Pandemie: Befreiung von der Rückerstattungspflicht EU-rechtswidrig

Eine nationale Regelung, nach der die Reiseveranstalter vorübergehend von ihrer Verpflichtung befreit sind, im Fall des Rücktritts alle Zahlungen voll zu erstatten, ist nicht mit dem Unionsrecht vereinbar. Dass er seinen Verpflichtungen aus dem Unionsrecht nicht nachkommt, kann ein Mitgliedstaat, sofern kein Fall höherer Gewalt vorliegt, nicht mit der Befürchtung rechtfertigen, dass es zu internen Schwierigkeiten kommen könne.

EuGH v. 8.6.2023 - C-407/21 u.a.
Der Sachverhalt:
UFC-Que Choisir und CLCV, zwei Verbraucherschutzvereine, haben beim französischen Conseil d"État (Staatsrat) Klage auf Nichtigerklärung einer Rechtsverordnung über die finanziellen Bestimmungen für die Auflösung bestimmter Verträge über touristische Reisen und Urlaubsaufenthalte im Fall unvermeidbarer, außergewöhnlicher Umstände oder höherer Gewalt erhoben (Rechtssache C-407/21). Diese Rechtsverordnung war im Kontext der Covid-19-Pandemie erlassen worden, um es den Reiseveranstaltern zu ermöglichen, im Fall des Rücktritts ("Auflösung") vom Pauschalreisevertrag wegen unvermeidbarer, außergewöhnlicher Umstände einen Gutschein mit einer Gültigkeit von 18 Monaten auszustellen, nach deren Ablauf im Fall der Nichteinlösung erst ein Anspruch auf Erstattung der für die Pauschalreise getätigten Zahlungen bestand. Damit wurde von der Pauschalreiserichtlinie abgewichen, nach der alle für die Pauschalreise getätigten Zahlungen innerhalb von spätestens 14 Tagen nach Beendigung des Pauschalreisevertrags voll zu erstatten sind. Nach den Angaben der französischen Regierung sollte mit dieser Maßnahme die Lebensfähigkeit der Tourismusbranche erhalten werden. Es sollte verhindern werden, dass die Liquidität der Reiseveranstalter wegen der hohen Zahl pandemiebedingter Erstattungsforderungen derart beeinträchtigt wird, dass deren Existenz bedroht ist.

In seinem Urteil stellt der EuGH fest, dass sich die Mitgliedstaaten nicht auf höhere Gewalt berufen können, um die Pauschalreiseveranstalter - auch nur vorübergehend - von der in der Pauschalreiserichtlinie vorgesehenen Verpflichtung zur Erstattung zu befreien.

Die Gründe:
Unter "Erstattung" ist eine Rückzahlung in Geld zu verstehen. Der Unionsgesetzgeber hat nicht gewollt, dass diese Verpflichtung durch eine Leistung in einer anderen Form wie z. B. das Angebot eines Gutscheins ersetzt werden kann. Mit der Pauschalreiserichtlinie wird das Ziel eines hohen und möglichst einheitlichen Verbraucherschutzniveaus verfolgt. Die Erstattung in Geld ist letztlich geeigneter, zum Schutz der Interessen des Verbrauchers beizutragen, was natürlich nicht ausschließt, dass der Reisende freiwillig eine Erstattung in Form eines Gutscheins akzeptiert.

Zu den Gründen für den Rücktritt von einem Pauschalreisevertrag ist festzustellen, dass es sich bei einer weltweiten gesundheitlichen Notlage wie der Covid-19-Pandemie - einem Ereignis, das ganz offensichtlich außerhalb jeglicher Kontrolle war und dessen Folgen sich auch dann nicht hätten vermeiden lassen, wenn alle zumutbaren Vorkehrungen getroffen worden wären - um "unvermeidbare, außergewöhnliche Umstände" handeln kann, bei denen die Pauschalreiserichtlinie eine volle Erstattung vorsieht.

Das Vorbringen der französischen Regierung wird zurückgewiesen, dass es sich bei der Covid-19-Pandemie nicht nur um "unvermeidbare, außergewöhnliche Umstände", sondern gleichzeitig auch um einen Fall von höherer Gewalt gehandelt habe, die Fälle umfasse, die über das hinausgingen, woran beim Erlass der Pauschalreiserichtlinie gedacht worden sei, und bei der eine von der Verpflichtung zur vollen Erstattung abweichende nationale Regelung erlassen werden könne. Der Begriff der unvermeidbaren, außergewöhnlichen Umstände stellt eine umfassende Durchführung des Begriffs der höheren Gewalt für die Zwecke der Pauschalreiserichtlinie dar. Diese sieht aber nicht die Möglichkeit vor, wegen höherer Gewalt von der Verpflichtung zur vollen Erstattung abzuweichen.

Die Mitgliedstaaten können sich nicht auf höhere Gewalt berufen, um den Erlass einer nationalen Regelung zu rechtfertigen, die nicht mit den Bestimmungen einer Richtlinie vereinbar ist. Im vorliegenden Fall liegt ohnehin kein Fall höherer Gewalt vor, da die entsprechenden Voraussetzungen nicht erfüllt sind. Erstens läuft die in Rede stehende Regelung darauf hinaus, dass die Verpflichtung zur Erstattung generell vorläufig ausgesetzt wird, ohne dass die konkrete individuelle finanzielle Situation der betreffenden Reiseveranstalter berücksichtigt wird. Zweitens hätten die finanziellen Folgen, die die französische Regierung beklagt, z. B. durch bestimmte Beihilfemaßnahmen zugunsten der betroffenen Reiseveranstalter verhindert werden können. Drittens ist die in Rede stehende Regelung - sie befreit die Reiseveranstalter während eines Zeitraums, der bis zu 21 Monaten dauern kann, von ihrer Verpflichtung zur Erstattung - nicht so gestaltet, dass ihre Auswirkungen auf den Zeitraum beschränkt wären, der erforderlich ist, um den Schwierigkeiten zu begegnen, die wegen des Ereignisses, das einen Fall höherer Gewalt darstellen kann, auftreten.

Ein nationales Gericht, das über eine Klage auf Nichtigerklärung einer nationalen Regelung zu entscheiden hat, die es für unionsrechtswidrig hält, ist verpflichtet, die Regelung für nichtig zu erklären. Im vorliegenden Fall kommt bei der entsprechenden Entscheidung eine Anpassung der Wirkungen wegen außergewöhnlicher Umstände (z. B. im Hinblick auf mit dem Umweltschutz oder der Stromversorgung eines Mitgliedstaats zusammenhängenden zwingenden Erwägungen) nicht in Betracht. Die Nichtigerklärung der in Rede stehenden Rechtsverordnung kann auf die Branche der Pauschalreisen nämlich keine so weitreichenden schädlichen Auswirkungen haben, dass die Aufrechterhaltung der Wirkungen der Regelung erforderlich wäre, um die finanziellen Interessen der Wirtschaftsteilnehmer dieser Branche zu schützen.

In der Rechtssache C-540/21 (Kommission/Slowakei) gilt im Wesentlichen das Gleiche. Die Slowakische Republik hat dadurch, dass sie eine Gesetzesänderung vorgenommen hat, mit der dem Reisenden vorübergehend sein Recht, ohne Zahlung einer Rücktrittsgebühr vom Pauschalreisevertrag zurückzutreten, und sein Anspruch auf volle Erstattung genommen wurde, gegen ihre Verpflichtung aus der Pauschalreiserichtlinie verstoßen.

Mehr zum Thema:

Aufsatz:
Pauschalreiserecht: Die COVID-19-Pandemie und das Recht zum kostenlosen Rücktritt vor Reisebeginn
Klaus Tonner, MDR 2023, 1

Aufsatz:
Die Entwicklungen des Pauschalreiserechts im Jahr 2021
Charlotte Achilles-Pujol, MDR 2022, 1377

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EuGH PM Nr. 94 vom 8.6.2023
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