Persönlichkeitsrechtsverletzung durch die Formulierung "polnisches Vernichtungslager Treblinka" in Internet-Artikel: EuGH zur Gerichtszuständigkeit
EuGH v. 17.6.2021 - C-800/19
Der Sachverhalt:
SM ist polnischer Staatsangehöriger. Er lebt in Warschau (Polen). Im Zweiten Weltkrieg war er im Vernichtungslager Auschwitz (Polen) interniert. Er führt Aktionen durch, um die Erinnerung an die Opfer der Verbrechen, die im Zweiten Weltkrieg von Nazi-Deutschland an den Polen begangen wurden, im öffentlichen Bewusstsein wachzuhalten.
Die Mittelbayerischer Verlag KG ist eine Gesellschaft mit Sitz in Regensburg (Deutschland). Sie veröffentlicht auf ihrer Website, die auch von anderen Ländern, u.a. Polen, aus abrufbar ist, eine Regionalzeitung in deutscher Sprache.
Im April 2017 wurde darin ein Artikel mit dem Titel "Ein Kämpfer und sein zweites Leben" veröffentlicht. In diesem Artikel, in dem es um das Schicksal des jüdischen Holocaust-Überlebenden Israël Offman während und nach dem Zweiten Weltkrieg geht, heißt es, dass dessen Schwester "im polnischen Vernichtungslager Treblinka ermordet worden war". Der Ausdruck "polnisches Vernichtungslager Treblinka" wurde nach einigen Stunden auf eine E-Mail des polnischen Konsulats in München (Deutschland) hin durch die Formulierung "von den Nazis im deutschen nationalsozialistischen Vernichtungslager Treblinka im besetzen Polen" ersetzt.
Ende 2017 erhob SM beim Sąd Okręgowy w Warszawie (Bezirksgericht Warschau) gegen die Mittelbayerischer Verlag KG Klage. Er begehrte den Schutz seiner Persönlichkeitsrechte, insbesondere seiner nationalen Identität und Würde, die durch die Verwendung des genannten Ausdrucks verletzt worden seien. Zur Begründung der Zuständigkeit dieses Gerichts berief sich SM auf das Urteil vom 25.10.2011, eDate Advertising u.a. (C‑509/09 und C‑161/10).
Die Verlags-KG machte im Wege einer Einrede geltend, dass die polnischen Gerichte nicht zuständig seien. Sie verwies auf das Erfordernis der Vorhersehbarkeit der Zuständigkeitsvorschriften der VO 1215/2012 und macht geltend, dass sie die Zuständigkeit der polnischen Gerichte unter solchen Umständen objektiv nicht habe vorhersehen können. Daher sei nicht Art. 7 Nr. 2, sondern Art. 4 Abs. 1 der VO 1215/2012 einschlägig. Danach seien die deutschen Gerichte zuständig.
Mit Beschluss vom 5.4.2019 wies der Sąd Okręgowy w Warszawie (Bezirksgericht Warschau) die von der Mittelbayerischer Verlag KG erhobene Einrede der Unzulässigkeit zurück. Das Sąd Apelacyjny w Warszawie (Berufungsgericht Warschau) setzte das Verfahren aus und ersuchte den EuGH um eine Vorabentscheidung zur Auslegung des Art. 7 Nr. 2 der VO 1215/2012.
Der EuGH entschied, dass das Gericht des Ortes, an dem sich der Mittelpunkt der Interessen einer Person befindet, die geltend macht, durch einen auf einer Website veröffentlichten Inhalt in ihren Persönlichkeitsrechten verletzt worden zu sein, für die Entscheidung über eine von dieser Person erhobene Haftungsklage auf Ersatz des gesamten entstandenen Schadens nur dann zuständig ist, wenn der Inhalt objektive und überprüfbare Elemente enthält, anhand derer sich die Person unmittelbar oder mittelbar individuell identifizieren lässt.
Die Gründe:
In den von SM zitierten Rechtssachen ging es um Fälle, in denen sich die im Internet veröffentlichten Inhalte unmittelbar auf die Personen bezogen, die eine Verletzung ihrer Persönlichkeitsrechte geltend machten. Die Personen wurden nämlich namentlich erwähnt. Dagegen geht es hier um den Fall, dass sich der auf der Website der Mittelbayerischer Verlag KG veröffentlichte Inhalt nach den Feststellungen des vorlegenden Gerichts weder unmittelbar noch mittelbar in irgendeiner Weise auf die Person bezieht, die geltend macht, durch ihn in ihren Persönlichkeitsrechten verletzt worden zu sein, und zwar auch nicht bei der weitestmöglichen Auslegung. Diese Person hat die von ihr geltend gemachten Ansprüche darauf gestützt, dass sie durch die Verwendung des Ausdrucks "polnisches Vernichtungslager Treblinka" in ihrer nationalen Identität und Würde verletzt worden sei.
Würde dem Gericht des Ortes, an dem sich der Mittelpunkt der Interessen dieser Person befindet, eine Zuständigkeit zugewiesen, um über die von dieser erhobene Klage auf Ersatz des gesamten entstandenen Schadens zu entscheiden, würde dies, wenn die Person in dem genannten Inhalt weder namentlich genannt wird noch sich mittelbar individuell identifizieren lässt, der Vorhersehbarkeit der Zuständigkeitsvorschriften der VO 1215/2012 und der Rechtssicherheit abträglich sein, die die Verordnung insbesondere für den Verbreiter des betreffenden Inhalts gewährleisten soll.
Dieser kann bei verständiger Würdigung nämlich nicht vorhersehen, dass er vor diesen Gerichten verklagt werden kann, da er zu dem Zeitpunkt, zu dem er einen Inhalt im Internet online stellt, den Schwerpunkt der Interessen von Personen, auf die sich der Inhalt überhaupt nicht bezieht, nicht zu erkennen vermag.
Eine andere Auslegung würde zu einer Häufung der potenziellen Gerichtsstände führen und könnte daher auch die Vorhersehbarkeit der Zuständigkeitsvorschriften der VO 1215/2012 und damit den Grundsatz der Rechtssicherheit, der der Verordnung zugrunde liegt, beeinträchtigen (vgl. entsprechend Urteil vom 13.7.2006, Roche Nederland u.a., C‑539/03).
Eine andere Auslegung würde die Grundlage verkennen, auf der die in dieser Vorschrift genannte besondere Zuständigkeitsregel beruht, nämlich eine besonders enge Verbindung zwischen dem Rechtsstreit und den nach Art. 7 Nr. 2 der Verordnung zuständigen Gerichten, mit der Rechtssicherheit geschaffen und verhindert werden soll, dass die Person, die die betreffenden Rechte verletzt haben soll, vor einem Gericht eines Mitgliedstaats verklagt werden kann, mit dem sie bei verständiger Würdigung nicht rechnen konnte.
Die Abweichung von der nach Art. 4 Abs. 1 der VO 1215/2012 bestehenden allgemeinen Zuständigkeit der Gerichte des Mitgliedstaats, in dem der Beklagte seinen Wohnsitz hat, gemäß Art. 7 Nr. 2 der Verordnung ist mithin allein bei Bestehen einer solchen engen Verbindung möglich.
Damit die mit der VO 1215/2012 verfolgten Ziele der Vorhersehbarkeit der Zuständigkeitsvorschriften der Verordnung und der Rechtssicherheit erreicht werden können, darf die enge Verbindung in dem Fall, dass eine Person geltend macht, durch einen auf einer Website veröffentlichten Inhalt in ihren Persönlichkeitsrechten verletzt worden zu sein, nicht auf ausschließlich subjektiven Elementen beruhen, die allein mit der persönlichen Sensibilität dieser Person zusammenhängen. Die enge Verbindung muss vielmehr auf objektiven und nachprüfbaren Elementen beruhen, anhand derer sich die betreffende Person unmittelbar oder mittelbar individuell identifizieren lässt.
Auch die bloße Zugehörigkeit einer Person zu einer großen identifizierbaren Gruppe wie der, von der in der ersten Vorlagefrage die Rede ist, ist nicht geeignet, zur Verwirklichung der genannten Ziele der Vorhersehbarkeit der Zuständigkeitsvorschriften und der Rechtssicherheit beizutragen. Der Mittelpunkt der Interessen der Mitglieder einer solchen Gruppe kann sich potenziell nämlich in jedem beliebigen Mitgliedstaat der Union befinden.
Im vorliegenden Fall wird SM in dem auf der Website der Mittelbayerischer Verlag KG veröffentlichten Inhalt jedoch offenkundig weder unmittelbar noch mittelbar individuell identifiziert. SM vertritt vielmehr die Auffassung, dass die Verwendung des von ihm beanstandeten Ausdrucks in diesem Inhalt in Anbetracht seiner Zugehörigkeit zum polnischen Volk einen Eingriff in seine Persönlichkeitsrechte darstelle.
In einem solchen Fall fehlt es an einer besonders engen Verbindung zwischen dem Gericht des Ortes, an dem sich der Mittelpunkt der Interessen der Person befindet, die sich auf ihre Persönlichkeitsrechte beruft, und dem betreffenden Rechtsstreit, so dass dieses Gericht nicht gemäß Art. 7 Nr. 2 der VO 1215/2012 dafür zuständig ist, über den Rechtsstreit zu entscheiden.
EuGH online
SM ist polnischer Staatsangehöriger. Er lebt in Warschau (Polen). Im Zweiten Weltkrieg war er im Vernichtungslager Auschwitz (Polen) interniert. Er führt Aktionen durch, um die Erinnerung an die Opfer der Verbrechen, die im Zweiten Weltkrieg von Nazi-Deutschland an den Polen begangen wurden, im öffentlichen Bewusstsein wachzuhalten.
Die Mittelbayerischer Verlag KG ist eine Gesellschaft mit Sitz in Regensburg (Deutschland). Sie veröffentlicht auf ihrer Website, die auch von anderen Ländern, u.a. Polen, aus abrufbar ist, eine Regionalzeitung in deutscher Sprache.
Im April 2017 wurde darin ein Artikel mit dem Titel "Ein Kämpfer und sein zweites Leben" veröffentlicht. In diesem Artikel, in dem es um das Schicksal des jüdischen Holocaust-Überlebenden Israël Offman während und nach dem Zweiten Weltkrieg geht, heißt es, dass dessen Schwester "im polnischen Vernichtungslager Treblinka ermordet worden war". Der Ausdruck "polnisches Vernichtungslager Treblinka" wurde nach einigen Stunden auf eine E-Mail des polnischen Konsulats in München (Deutschland) hin durch die Formulierung "von den Nazis im deutschen nationalsozialistischen Vernichtungslager Treblinka im besetzen Polen" ersetzt.
Ende 2017 erhob SM beim Sąd Okręgowy w Warszawie (Bezirksgericht Warschau) gegen die Mittelbayerischer Verlag KG Klage. Er begehrte den Schutz seiner Persönlichkeitsrechte, insbesondere seiner nationalen Identität und Würde, die durch die Verwendung des genannten Ausdrucks verletzt worden seien. Zur Begründung der Zuständigkeit dieses Gerichts berief sich SM auf das Urteil vom 25.10.2011, eDate Advertising u.a. (C‑509/09 und C‑161/10).
Die Verlags-KG machte im Wege einer Einrede geltend, dass die polnischen Gerichte nicht zuständig seien. Sie verwies auf das Erfordernis der Vorhersehbarkeit der Zuständigkeitsvorschriften der VO 1215/2012 und macht geltend, dass sie die Zuständigkeit der polnischen Gerichte unter solchen Umständen objektiv nicht habe vorhersehen können. Daher sei nicht Art. 7 Nr. 2, sondern Art. 4 Abs. 1 der VO 1215/2012 einschlägig. Danach seien die deutschen Gerichte zuständig.
Mit Beschluss vom 5.4.2019 wies der Sąd Okręgowy w Warszawie (Bezirksgericht Warschau) die von der Mittelbayerischer Verlag KG erhobene Einrede der Unzulässigkeit zurück. Das Sąd Apelacyjny w Warszawie (Berufungsgericht Warschau) setzte das Verfahren aus und ersuchte den EuGH um eine Vorabentscheidung zur Auslegung des Art. 7 Nr. 2 der VO 1215/2012.
Der EuGH entschied, dass das Gericht des Ortes, an dem sich der Mittelpunkt der Interessen einer Person befindet, die geltend macht, durch einen auf einer Website veröffentlichten Inhalt in ihren Persönlichkeitsrechten verletzt worden zu sein, für die Entscheidung über eine von dieser Person erhobene Haftungsklage auf Ersatz des gesamten entstandenen Schadens nur dann zuständig ist, wenn der Inhalt objektive und überprüfbare Elemente enthält, anhand derer sich die Person unmittelbar oder mittelbar individuell identifizieren lässt.
Die Gründe:
In den von SM zitierten Rechtssachen ging es um Fälle, in denen sich die im Internet veröffentlichten Inhalte unmittelbar auf die Personen bezogen, die eine Verletzung ihrer Persönlichkeitsrechte geltend machten. Die Personen wurden nämlich namentlich erwähnt. Dagegen geht es hier um den Fall, dass sich der auf der Website der Mittelbayerischer Verlag KG veröffentlichte Inhalt nach den Feststellungen des vorlegenden Gerichts weder unmittelbar noch mittelbar in irgendeiner Weise auf die Person bezieht, die geltend macht, durch ihn in ihren Persönlichkeitsrechten verletzt worden zu sein, und zwar auch nicht bei der weitestmöglichen Auslegung. Diese Person hat die von ihr geltend gemachten Ansprüche darauf gestützt, dass sie durch die Verwendung des Ausdrucks "polnisches Vernichtungslager Treblinka" in ihrer nationalen Identität und Würde verletzt worden sei.
Würde dem Gericht des Ortes, an dem sich der Mittelpunkt der Interessen dieser Person befindet, eine Zuständigkeit zugewiesen, um über die von dieser erhobene Klage auf Ersatz des gesamten entstandenen Schadens zu entscheiden, würde dies, wenn die Person in dem genannten Inhalt weder namentlich genannt wird noch sich mittelbar individuell identifizieren lässt, der Vorhersehbarkeit der Zuständigkeitsvorschriften der VO 1215/2012 und der Rechtssicherheit abträglich sein, die die Verordnung insbesondere für den Verbreiter des betreffenden Inhalts gewährleisten soll.
Dieser kann bei verständiger Würdigung nämlich nicht vorhersehen, dass er vor diesen Gerichten verklagt werden kann, da er zu dem Zeitpunkt, zu dem er einen Inhalt im Internet online stellt, den Schwerpunkt der Interessen von Personen, auf die sich der Inhalt überhaupt nicht bezieht, nicht zu erkennen vermag.
Eine andere Auslegung würde zu einer Häufung der potenziellen Gerichtsstände führen und könnte daher auch die Vorhersehbarkeit der Zuständigkeitsvorschriften der VO 1215/2012 und damit den Grundsatz der Rechtssicherheit, der der Verordnung zugrunde liegt, beeinträchtigen (vgl. entsprechend Urteil vom 13.7.2006, Roche Nederland u.a., C‑539/03).
Eine andere Auslegung würde die Grundlage verkennen, auf der die in dieser Vorschrift genannte besondere Zuständigkeitsregel beruht, nämlich eine besonders enge Verbindung zwischen dem Rechtsstreit und den nach Art. 7 Nr. 2 der Verordnung zuständigen Gerichten, mit der Rechtssicherheit geschaffen und verhindert werden soll, dass die Person, die die betreffenden Rechte verletzt haben soll, vor einem Gericht eines Mitgliedstaats verklagt werden kann, mit dem sie bei verständiger Würdigung nicht rechnen konnte.
Die Abweichung von der nach Art. 4 Abs. 1 der VO 1215/2012 bestehenden allgemeinen Zuständigkeit der Gerichte des Mitgliedstaats, in dem der Beklagte seinen Wohnsitz hat, gemäß Art. 7 Nr. 2 der Verordnung ist mithin allein bei Bestehen einer solchen engen Verbindung möglich.
Damit die mit der VO 1215/2012 verfolgten Ziele der Vorhersehbarkeit der Zuständigkeitsvorschriften der Verordnung und der Rechtssicherheit erreicht werden können, darf die enge Verbindung in dem Fall, dass eine Person geltend macht, durch einen auf einer Website veröffentlichten Inhalt in ihren Persönlichkeitsrechten verletzt worden zu sein, nicht auf ausschließlich subjektiven Elementen beruhen, die allein mit der persönlichen Sensibilität dieser Person zusammenhängen. Die enge Verbindung muss vielmehr auf objektiven und nachprüfbaren Elementen beruhen, anhand derer sich die betreffende Person unmittelbar oder mittelbar individuell identifizieren lässt.
Auch die bloße Zugehörigkeit einer Person zu einer großen identifizierbaren Gruppe wie der, von der in der ersten Vorlagefrage die Rede ist, ist nicht geeignet, zur Verwirklichung der genannten Ziele der Vorhersehbarkeit der Zuständigkeitsvorschriften und der Rechtssicherheit beizutragen. Der Mittelpunkt der Interessen der Mitglieder einer solchen Gruppe kann sich potenziell nämlich in jedem beliebigen Mitgliedstaat der Union befinden.
Im vorliegenden Fall wird SM in dem auf der Website der Mittelbayerischer Verlag KG veröffentlichten Inhalt jedoch offenkundig weder unmittelbar noch mittelbar individuell identifiziert. SM vertritt vielmehr die Auffassung, dass die Verwendung des von ihm beanstandeten Ausdrucks in diesem Inhalt in Anbetracht seiner Zugehörigkeit zum polnischen Volk einen Eingriff in seine Persönlichkeitsrechte darstelle.
In einem solchen Fall fehlt es an einer besonders engen Verbindung zwischen dem Gericht des Ortes, an dem sich der Mittelpunkt der Interessen der Person befindet, die sich auf ihre Persönlichkeitsrechte beruft, und dem betreffenden Rechtsstreit, so dass dieses Gericht nicht gemäß Art. 7 Nr. 2 der VO 1215/2012 dafür zuständig ist, über den Rechtsstreit zu entscheiden.