10.03.2025

Rechtliches Gehör: Zu überhöhten Anforderungen an die Substantiierungspflicht zum Krankheitswert psychischer Beeinträchtigungen

Der Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs ist verletzt, wenn offenkundig unrichtig überhöhte Anforderungen an die Substantiierungspflicht zum Krankheitswert psychischer Beeinträchtigungen gestellt werden.

BGH v. 11.2.2025 - VI ZR 185/24
Der Sachverhalt:
Die Klägerin macht gegen den Beklagten als Haftpflichtversicherer des Unfallgegners im Wege der offenen Teilklage einen weiteren Teilschmerzensgeldanspruch aus einem Verkehrsunfall geltend. Bei diesem kam der Unfallgegner von der Fahrbahn ab und fuhr auf den Gehweg, wo er mit einer Gruppe von Passanten kollidierte, unter denen sich auch die Klägerin, ihre Großeltern und ihr damals sechs Wochen alter Sohn befanden. Die Klägerin erlitt mehrere Verletzungen. Ihr Sohn erlitt ein Schädel-Hirn-Trauma und eine Hirnblutung, zudem war ein Lungenflügel zusammengeklappt. Er lag eine Woche im künstlichen Koma. Vorgerichtlich zahlte der Beklagte an die Klägerin ein Schmerzensgeld von insgesamt 15.000 €.

Das LG gab der Klage teilweise statt und sprach der Klägerin ein weiteres Teilschmerzensgeld i.H.v. 10.000 € zu. Das OLG reduzierte die Höhe des weiteren Teilschmerzensgelds auf 5.000 €. Die Revision zum BGH wurde nicht zugelassen. Auf die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin hob der BGH das Urteil des OLG auf und verwies die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung dorthin zurück.

Die Gründe:
Die angefochtene Entscheidung beruht auf einer Verletzung des Anspruchs der Klägerin auf Gewährung rechtlichen Gehörs aus Art. 103 Abs. 1 GG.

Im Ausgangspunkt zutreffend ist das OLG davon ausgegangen, dass eine psychische Störung, die beim Geschädigten mittelbar durch die Verletzung eines Rechtsgutes bei einem Dritten verursacht wurde (sog. "Schockschaden"), wie im Falle einer unmittelbaren Beeinträchtigung eine Gesundheitsverletzung i.S.d. § 823 Abs. 1 BGB darstellt, wenn sie pathologisch fassbar ist, also Krankheitswert hat. Für den Krankheitswert von psychischen Beeinträchtigungen, die als Primärschaden geltend gemacht werden, gilt dabei das strenge Beweismaß des § 286 ZPO, das die volle Überzeugung des Tatrichters erfordert. Allerdings hat das OLG offenkundig unrichtig überhöhte Anforderungen an die Substantiierungspflicht der Klägerin zum Krankheitswert der psychischen Beeinträchtigungen gestellt und damit deren Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs in entscheidungserheblicher Weise verletzt.

Art. 103 Abs. 1 GG vermittelt allen an einem gerichtlichen Verfahren Beteiligten einen Anspruch darauf, sich zu dem in Rede stehenden Sachverhalt und zur Rechtslage zu äußern. Dem entspricht die Pflicht des Gerichts, tatsächliche und rechtliche Ausführungen der Beteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. Dabei darf das Gericht die Anforderungen an die Substantiierung des Parteivortrags nicht überspannen. Das Gericht muss nur in die Lage versetzt werden, aufgrund des tatsächlichen Vorbringens der Partei zu entscheiden, ob die gesetzlichen Voraussetzungen für das Bestehen des geltend gemachten Rechts vorliegen. Sind diese Anforderungen erfüllt, ist es Sache des Tatrichters, in die Beweisaufnahme einzutreten und dabei ggf. die benannten Zeugen oder die zu vernehmende Partei nach weiteren Einzelheiten zu befragen oder einem Sachverständigen die beweiserheblichen Streitfragen zu unterbreiten.

Von einem Kläger, der Schadensersatz wegen Verletzung seines Körpers oder seiner Gesundheit verlangt, kann keine genaue Kenntnis medizinischer Zusammenhänge erwartet und gefordert werden. Ihm fehlt insoweit das nötige Fachwissen. Er ist nicht verpflichtet, sich zur ordnungsgemäßen Prozessführung medizinisches Fachwissen anzueignen. Die Klägerin hat nicht nur ihre psychischen Beschwerden beschrieben. Sie hat auch ausdrücklich die Behauptung aufgestellt, dass es sich bei diesen Beschwerden um "pathologisch feststellbare Gesundheitsbeeinträchtigungen im psychischen Bereich" handle. Sie hat weiter in der Klageschrift und in einem Schriftsatz aus dem von ihr vorgelegten I-Bericht zitiert, wonach ihre psychische Situation das "gesundheitliche Hauptproblem" sei. Im I-Bericht findet sich in der Aufstellung der beim Unfall erlittenen Verletzungen u.a. der Eintrag: "e) Deutliche Hinweise auf eine Anpassungsstörung". Es wird deshalb eine Verhaltenstherapie empfohlen. Die Klägerin hat 23 psychotherapeutische Behandlungsstunden absolviert, deren Kosten vom Beklagten übernommen wurden. Zudem hat die Klägerin behauptet, dass die Behandlungen aufgrund des Unfallgeschehens "medizinisch geboten" gewesen seien und dies unter Beweis gestellt durch den Antrag auf Einholung eines Sachverständigengutachtens.

Eine weitere Substantiierung kann von einem medizinischen Laien, der in seinen Beschwerden die Symptome einer unfallbedingten psychischen Erkrankung vermutet, nicht erwartet werden. Insbesondere musste die Klägerin nicht, wie vom OLG erwartet, vortragen, dass eine fachkundige Person bereits eine Diagnose aus dem Katalog des Kapitels V des Klassifikationssystems ICD-10 gestellt habe, und auch nicht entsprechende Bescheinigungen ihrer Psychotherapeutinnen vorlegen. Der Behauptung der Klägerin, dass es sich bei ihren Beschwerden um "pathologisch feststellbare Gesundheitsbeeinträchtigungen im psychischen Bereich" handle, war vielmehr durch die Einholung eines Sachverständigengutachtens nachzugehen.

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Aufsatz
Zur Bedeutung der Gewährung rechtlichen Gehörs - "audiatur et altera pars" als Grundpfeiler des Rechtsstaats im Zivilprozess
Anna Leoni Groteclaes, GVRZ 2025, 19
GVRZ0074691

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