06.08.2024

Rechtsanwalt sperrt sich aus Kanzlei aus und versäumt Frist: Wiedereinsetzung?

Ist ein Rechtsanwalt nicht in der Lage, die Büroräume seiner Kanzlei zu betreten, weil er den Büroschlüssel im Büro vergessen hat, bedarf eine ein Verschulden des Rechtsanwalts an einer Fristversäumnis ausschließende Darlegung Ausführungen dazu, dass und aus welchen Gründen keine der naheliegenden Möglichkeiten, innerhalb der noch zur Verfügung stehenden Frist einen Zugang zu den Büroräumen zu ermöglichen oder einen anderen Rechtsanwalt mit der Vornahme der fristwahrenden Handlung zu beauftragen, einen Erfolg gehabt hätte.

BGH v. 11.7.2024 - IX ZB 31/23
Der Sachverhalt:
Die Klägerin verlangt von den Beklagten die Rückzahlung von Darlehen. Das LG gab der Klage in vollem Umfang statt und verurteilte die Beklagten zu Zahlung zwischen 7.000 € und 15.000 €. Das Urteil wurde der Prozessbevollmächtigten der Beklagten am 2.5.2023 zugestellt. Diese legte am 5.6.2023 Berufung ein und beantragte Wiedereinsetzung in die versäumte Berufungsfrist. Zur Begründung führte sie aus, sie habe wegen eines unvorhergesehenen Schwindels das Büro am 2.6.2023 vor Fertigstellung der Berufungsschrift verlassen müssen, um sich zuhause auszuruhen. Sie habe hierbei den Schlüssel in den Büroräumen vergessen, so dass sie das Büro nicht wieder habe betreten können, als sie - nachdem sie mehrere Stunden zuhause geschlafen habe - um 19 Uhr desselben Tages dorthin zurückgefahren sei, um die Berufungsschrift fertigzustellen. Sie habe sodann versucht, eine Kollegin, die sich jedoch auf einem Auswärtstermin befunden habe und deshalb nicht habe kommen und aufsperren können, telefonisch zu erreichen. Telefonnummern weiterer Kollegen oder auch der Sekretärin habe sie nicht in ihrem Handy gespeichert gehabt.

Das Berufungsgericht wies den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zurück und verwarf die Berufung als unzulässig. Der BGH hat die dagegen erhobene Rechtsbeschwerde der Beklagten als unzulässig verworfen.

Die Gründe:
Die Beurteilung des Berufungsgerichts, die den Wiedereinsetzungsantrag tragenden Tatsachen seien weder dargelegt noch glaubhaft gemacht worden, ist nicht zu beanstanden. Das Berufungsgericht hat mit seiner Beurteilung die Ansprüche der Beklagten auf rechtliches Gehör gemäß Art. 103 Abs. 1 GG und auf effektiven Rechtsschutz gemäß Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip nicht verletzt.

Die angegriffene Entscheidung genügt den von Art. 103 Abs. 1 GG gestellten Anforderungen. Das Berufungsgericht hat zur Darstellung der geltend gemachten Wiedereinsetzungsgründe auf die Begründung des Wiedereinsetzungsantrags Bezug genommen. In der Sache hat es ausgeführt, es fehle an einer Darlegung der Anstrengungen der Beklagtenvertreterin zur Einschaltung eines Vertreters.

Zudem fehlte es an der Entscheidungserheblichkeit eines etwaigen Verstoßes gegen Art. 103 Abs. 1 GG. Nach ständiger Rechtsprechung des BGH hat ein Rechtsanwalt, der eine Frist bis zum letzten Tag ausschöpft, wegen des damit erfahrungsgemäß verbundenen Risikos erhöhte Sorgfalt aufzuwenden, um die Einhaltung der Frist sicherzustellen. Eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ist infolgedessen ausgeschlossen, wenn von ihm nicht alle erforderlichen und zumutbaren Schritte unternommen wurden, die unter normalen Umständen zur Fristwahrung geführt hätten.

Diesen Maßstäben ist die Beklagtenvertreterin, deren Verschulden den Beklagten nach § 85 Abs. 2 ZPO zuzurechnen ist, nicht gerecht geworden. Zu Recht wirft die Beschwerdeerwiderung die Frage auf, warum die Beklagtenvertreterin nicht zu der im Außentermin befindlichen Kollegin gefahren ist, um den Kanzleischlüssel abzuholen. Ebenso wenig legen die Beklagten dar, dass es ihrer Prozessbevollmächtigten nicht möglich gewesen sei, über die bei dem Außentermin befindliche Kollegin die Telefonnummern weiterer Kanzleikollegen oder -mitarbeiter zu erfragen. Auch ist weder vorgetragen noch ersichtlich, dass es der Beklagtenvertreterin nicht möglich gewesen sei, auf anderem als dem telefonischen Wege weitere Kanzleikollegen oder -mitarbeiter zu erreichen. Schließlich zeigen die Beklagten nicht auf, dass weder ein Kontakt zu einem Schlüsseldienst noch - im Falle der Aufschaltung der Alarmanlage der Kanzlei - zu einer Notrufzentrale möglich gewesen ist, um die alarmgesicherte Kanzleitür öffnen zu lassen. Weder der Sachvortrag noch die eidesstattliche Versicherung verhalten sich zu diesen Möglichkeiten. Daher lässt sich ein den Beklagten zuzurechnendes Verschulden der Beklagtenvertreterin nicht ausschließen, weil weder vorgetragen noch glaubhaft gemacht ist, dass die Beklagtenvertreterin alle erforderlichen und zumutbaren Schritte unternommen hat, die unter normalen Umständen zu einer Fristwahrung geführt hätten.

Das Berufungsgericht hat auch nicht den Anspruch der Beklagten auf Gewährung wirkungsvollen Rechtsschutzes (Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip) verletzt. Die Auffassung des Berufungsgerichts, die Beklagten hätten nicht hinreichend dargetan, die Berufungsfrist unverschuldet versäumt zu haben (§ 233 ZPO), überspannt unter den gegebenen Umständen und Verhältnissen nicht die an die Sorgfalt eines Rechtsanwalts zu stellenden Anforderungen.

Denn die Beklagtenvertreterin hat nach den vorstehenden Ausführungen nicht dargelegt und glaubhaft gemacht, alle erforderlichen und zumutbaren Schritte unternommen zu haben, die unter normalen Umständen zur Fristwahrung geführt hätten, obwohl sie die Berufungsfrist bis zum letzten Tag ausgeschöpft und wegen des damit erfahrungsgemäß verbundenen Risikos erhöhte Sorgfalt aufzuwenden hatte, um die Einhaltung der Frist sicherzustellen.

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Aufsatz:
Rechtsprechungsübersicht zur Wiedereinsetzung in den vorigen Stand
Norbert Vossler, MDR 2024, 474

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