06.12.2021

Schulverweigerung impliziert nicht automatisch eine Kindeswohlgefährdung

§§ 1666, 1666a BGB ermöglichen lediglich ein staatliches Einschreiten zur Abwehr einer konkreten Kindeswohlgefährdung, nicht die Durchsetzung einer bestmöglichen Förderung des jeweils betroffenen Kindes. Im Fall einer Schulverweigerung kann nicht automatisch eine Kindeswohlgefährdung angenommen werden, sondern alle wesentlichen Aspekte des konkreten Einzelfalls sind zu ermitteln und hinsichtlich einer konkreten Kindeswohlgefährdung zu bewerten.

OLG Bamberg v. 22.11.2021, 2 UF 220/20
Der Sachverhalt:
Das betroffene elfjährige Kind (K.) lebt im Haushalt seiner Eltern zusammen mit seinen neun- bzw. zehnjährigen Geschwistern. Die Eltern sind gemeinsam sorgeberechtigt. Während der Vater erwerbstätig ist, betreut die Mutter die Kinder und unterrichtet diese zuhause. Die Mutter ist staatlich geprüfte Übersetzerin, verfügt über einen Hochschulabschluss in Biologie und absolviert ein Fernstudium der Bildungswissenschaft.

K. leidet unter Gehörlosigkeit und verfügt inzwischen über ein Cochlea-Implantat. Er wurde im Jahr 2015/2016 von der Einschulung zurückgestellt. Im September 2016 hatte der Vater der Schule eine Abmeldebestätigung für seinen Sohn nach Frankreich vorgelegt. Ab 10.1.2017 besuchte K. die erste Klasse einer Grundschule. Der Schulbesuch wurde nach wenigen Wochen eingestellt. Auch die Geschwister besuchen die staatliche Schule nicht mehr.

Im März 2019 berichtete das Jugendamt von vergeblichen Bemühungen im Jahr 2018, auf der Basis des Gutachtens eine Wiedereingliederung des Kindes in der Schule zu erreichen. So habe im Juni 2018 ein gemeinsames Gespräch mit den Eltern unter Leitung des Direktors des Schulamts stattgefunden. Die Eltern hingegen strebten eine Befreiung des Kindes vom Unterricht und eine Fortsetzung der Heimbeschulung an.

Nach zahlreichen Gutachten stellte das AG in Ziffer 1 seine Beschlusses klar, dass den Eltern das Sorgerecht für K. nicht entzogen werde. In Ziffer 2 machte es den Eltern folgende Auflagen:

2.1 Teilnahme der Eltern an einer Helferkonferenz unter Teilnahme des Jugendamts, der Schule und des K, im Rahmen derer die schrittweise Integration des Kindes in die Schule erörtert wird. Die erörterten Maßnahmen seien umzusetzen.
2.2 Beantragung einer speziellen Therapie der isolierten Rechtschreibstörung des Kindes durch die Eltern, wobei die Einzelheiten in der Helferkonferenz erörtert werden.
2.3 Installation einer sozialpädagogischen Familienhilfe, sofern vom Helfersystem befürwortet, was in der Helferkonferenz zu erörtern sei.


Mit Ziffer 3 des Beschlusses wurde dem Jugendamt aufgegeben, binnen sechs Wochen über den weiteren Verlauf zu berichten.

Auf die Beschwerde der Eltern hat das OLG den Beschluss in Ziffern 2 und 3 aufgehoben und das Verfahren eingestellt.

Die Gründe:
Das Beschwerdegericht vermag die Auffassung des AG nicht teilen, dass durch den unterbliebenen Schulbesuch des Kindes die Voraussetzungen für familiengerichtliche Maßnahmen nach §§ 1666, 1666a BGB erfüllt sind.

§§ 1666, 1666a BGB ermöglichen lediglich ein staatliches Einschreiten zur Abwehr einer konkreten Kindeswohlgefährdung, nicht die Durchsetzung einer bestmöglichen Förderung des jeweils betroffenen Kindes. Zwar kann es einen Missbrauch der elterlichen Sorge darstellen, der das Wohl des Kindes nachhaltig gefährdet und Maßnahmen des Familiengerichts nach §§ 1666, 1666a BGB erfordert, wenn Eltern sich beharrlich weigern, ihre Kinder einer öffentlichen Schule oder anerkannten Ersatzschule zuzuführen, um sie stattdessen zu Hause zu unterrichten. Im Fall einer Schulverweigerung kann jedoch nicht automatisch eine Kindeswohlgefährdung angenommen werden, sondern alle wesentlichen Aspekte des konkreten Einzelfalls sind zu ermitteln und hinsichtlich einer konkreten Kindeswohlgefährdung zu bewerten. Allgemeine Erwägungen reichen zur Begründung einer konkreten und erheblichen Gefährdung i.S.d. § 1666 Abs. 1 BGB nicht aus.

Nach diesen Maßstäben konnte vorliegend eine gegenwärtige oder unmittelbar bevorstehende, erhebliche Schädigung des körperlichen, geistigen oder seelischen Wohls des Kindes gerade nicht festgestellt werden. Letztlich beruhte die gerichtliche Überzeugung, dass beim betroffenen Kind K keine konkrete Kindeswohlgefährdung vorliegt, auf dem Eindruck anlässlich der Anhörung des Kindes. Der damals 12-jährige Junge konnte das etwa einstündige Gespräch mit fünf Erwachsenen gut meistern. Er antwortete flüssig und stets sinnvoll und berichtete von seinem Tagesablauf, seinen sozialen Bezügen und seinen Vorstellungen und Zielen für sein weiteres Leben. Der Senat konnte den Eindruck gewinnen, dass es sich bei K nicht um ein sozial isoliertes Kind handelt, sondern dass der Junge über einen Freundeskreis verfügt und sich außerhalb der Familie in einem Sportverein und der Jugendfeuerwehr betätigt.

Die vom Familiengericht angeordneten Auflagen in Ziffer 2 des Beschlusses können daher mangels Rechtsgrundlage keinen Bestand haben. Für die Einhaltung der Schulpflicht zu sorgen ist zudem nicht Aufgabe des Familiengerichts. Vielmehr stehen der Schulbehörde hierfür die sich aus Art. 118, 119 i.V.m. Art. 35 BayEUG ergebenden Maßnahmen zur Verfügung, die von dieser in eigener Zuständigkeit zu prüfen sind.

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