08.02.2023

Schützenswertes Vertrauen auf Ersatz von Behandlungskosten in der privaten Krankenversicherung

In Ausnahmefällen kann in der privaten Krankenversicherung der Versicherer nach Treu und Glauben zum Ersatz von Behandlungskosten verpflichtet sein, obwohl sich diese als medizinisch nicht notwendig erweisen (Vertrauenshaftung). Dabei sind unter Berücksichtigung des Ausnahmecharakters strenge Anforderungen hinsichtlich des Umstandsmoments bzw. bei der Würdigung der Interessenlage zu stellen.

OLG Karlsruhe v. 2.2.2023 - 12 U 194/22
Der Sachverhalt:
Die Klägerin hatte 2009 einen Herzinfarkt erlitten. Von 2013 bis Oktober 2015 befand sie sich bei Dr. W. in Behandlung, einem Facharzt für Allgemeinmedizin, Naturheilverfahren und Umweltmedizin. Die Klägerin litt in diesem Zeitraum u.a. an einer Hornhautverkrümmung, latentem Schielen und einem beginnenden grauen Star bei zunehmender Sehverschlechterung; ferner unter extremer muskulärer Verspannung der Halswirbelsäule inklusive beider Schultern, multiplen Blockierungen der Wirbelsäule, einer Rippenblockade mit Bewegungseinschränkungen, einer Atlas- und Axis-Verschiebung sowie einer erheblichen Schmerzsymptomatik und extremen Kopfschmerzen. Zudem bestand eine globale motorische Aphasie (Sprachstörung), eine Kontrastmittelallergie und intermittierendes Vorhofflimmern.

Dr. W. führte bei der Klägerin u.a. eine Photonentherapie und eine hyperbare Ozontherapie durch. Die beklagte private Krankenversicherung bezahlte zwar die Heilbehandlungskosten in den Jahren 2013 und 2014, nahm aber jeweils geringe Abzüge vor. Im März 2015 kündigte die Beklagte gegenüber der Klägerin eine Prüfung des Leistungsanspruchs an und forderte einen ausführlichen Befund- und Behandlungsbericht sowie eine unterschriebene Einverständniserklärung an.

Für die im Zeitraum Februar 2015 bis Juli 2015 erbrachten Leistungen hatte Dr. W. der Klägerin insgesamt 9.542 € in Rechnung. Die Beklagte erstattete hiervon allerdings nur 1.679 €; wegen der übrigen Rechnungspositionen lehnte sie die Kostenerstattung ab. Sie war der Ansicht, die von ihr nicht erstatteten Behandlungen seien überwiegend nicht medizinisch notwendig gewesen und es handle sich auch nicht um alternative Methoden, die sich in der Praxis als ebenso erfolgversprechend bewährt hätten.

Das LG hat die Beklagte verurteilt, an die Klägerin 4.234 €. Im Übrigen hat es die Klage abgewiesen. Das OLG hat die hiergegen gerichtete Berufung zurückgewiesen.

Die Gründe:
Zu Recht hat das LG erkannt, dass die Beklagte nach Treu und Glauben zum Ersatz der bis März 2015 angefallenen Behandlungskosten verpflichtet ist. Insoweit gilt im Ausgangspunkt, dass die Frage der Leistungspflicht für jede medizinische Behandlung dem Grunde und der Höhe nach neu zu prüfen ist und eine frühere Kostenerstattung grundsätzlich keine Bindungswirkung entfaltet. Gleichwohl kommt ausnahmsweise eine Vertrauenshaftung des Versicherers in Betracht.

In Ausnahmefällen kann in der privaten Krankenversicherung der Versicherer nach Treu und Glauben zum Ersatz von Behandlungskosten verpflichtet sein, obwohl sich diese als medizinisch nicht notwendig erweisen (Vertrauenshaftung). Dabei sind unter Berücksichtigung des Ausnahmecharakters strenge Anforderungen hinsichtlich des Umstandsmoments bzw. bei der Würdigung der Interessenlage zu stellen. Im Ausgangspunkt ist eine vorbehaltlose Kostenerstattung über einen längeren Zeitraum grundsätzlich geeignet, beim Versicherungsnehmer das berechtigte Vertrauen darauf zu wecken, dass auch in Zukunft eine Erstattung weiter erfolgen werde. Auch dann ist aber ein Anspruch aus Vertrauensschutzgesichtspunkten nur unter weiteren besonderen Voraussetzungen zu bejahen. Hierzu bedarf es stets einer konkreten Prüfung im Einzelfall.

In der dabei gebotenen Interessenabwägung kann etwa die Frage zu berücksichtigen sein, wie sehr das Vertrauen des Versicherungsnehmers auf die Kostenerstattung seine Entscheidung zugunsten der durchgeführten Behandlung beeinflusst hat. Je stärker der Versicherungsnehmer auf die Kostenerstattung angewiesen war und seine Entscheidung davon abhängig machte, und je deutlicher dies für den Versicherer erkennbar war, desto schutzwürdiger ist sein Vertrauen. Von Bedeutung kann auch sein, ob der Versicherungsnehmer Anlass für die Annahme hatte, dass der Versicherer die Kostenerstattung eingehend geprüft hatte, ob der Versicherungsnehmer eine solche Prüfung - etwa nach § 192 Abs. 8 VVG - angestoßen hat, oder ob er dies vorwerfbar versäumt hat. Für die Schutzwürdigkeit des Vertrauens spielt es auch eine Rolle, ob Krankheit und Behandlung im Wesentlichen gleichblieben. Insbesondere dann, wenn von einem einheitlichen Versicherungsfall auszugehen ist, liegt eine Bindung des Versicherers näher als bei verschiedenen Versicherungsfällen, unterschiedlichen Krankheiten oder teilweise abweichenden Behandlungen.

Infolgedessen war es im vorliegenden Fall unter Abwägung aller Umstände gerechtfertigt, der Beklagten die Verpflichtung zur Erstattung der bis März 2015 angefallenen Kosten aufzuerlegen. Mit ihrem Erstattungsverhalten über einen Zeitraum von eineinhalb Jahren und in erheblichem Umfang hat die Beklagte ein schutzwürdiges Vertrauen bei der Klägerin hervorgerufen. Krankheit und Behandlungsmethoden waren im fraglichen Zeitraum durchweg gleich geblieben. Dasselbe galt für die Behandlungskosten. Ein besonderes und letztlich das zugunsten der Klägerin ausschlaggebende Gewicht hat der Umstand, dass die Beklagte die in den Jahren 2013 und 2014 eingereichten Rechnungen nicht in vollem Umfang erstattet, sondern - wenn auch geringfügige - Abzüge vorgenommen hatte. Das ließ aus der Perspektive der Klägerin erkennen, dass die Beklagte die Frage der medizinischen Notwendigkeit nicht etwa übersehen oder aus wirtschaftlichen Erwägungen auf die Überprüfung verzichtet, sondern die Rechnungen geprüft und im Umfang der Erstattung gebilligt hatte.

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