22.12.2022

Sittenwidrige Schenkung: Bewusstes Ausnutzen einer Zwangslage kann ausreichen

Ist der Schenker aufgrund einer objektiven oder subjektiven Zwangslage zur Schenkung veranlasst worden, kann der Vorwurf der Sittenwidrigkeit nicht nur solche Personen treffen, die diese Zwangslage herbeigeführt haben. Vielmehr kann es ausreichen, wenn der Zuwendungsempfänger sich eine bestehende Zwangslage bewusst zu Nutze macht.

BGH v. 15.11.2022 - X ZR 40/20
Der Sachverhalt:
Der zum maßgeblichen Zeitpunkt 95-jährige Kläger hatte den beiden Beklagten - seinen Enkeln - mit notariell beurkundetem Vertrag vom 13.6.2017 Wertpapiere im Wert von jeweils 219.000 €.geschenkt. Zu einer Übertragung der Papiere ist es in der Folgezeit nicht gekommen. Am gleichen Tag hatte der Kläger seinem Sohn - dem Vater der Beklagten - das Eigentum an einem Mehrfamilienhaus übertragen.

Mit Schreiben vom 15.8.2017 erklärte der Kläger gegenüber den Beklagten die Anfechtung des mit ihnen abgeschlossenen Schenkungsvertrags aus allen rechtlich vorgesehenen Gründen. LG und OLG haben die auf Feststellung der Nichtigkeit des Schenkungsvertrags mit den Beklagten gerichtete Klage abgewiesen. Auf die Revision des Klägers hat der BGH den Beschluss des OLG aufgehoben und die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Gründe:
Zwar hatten die Vorinstanzen zu Recht die Voraussetzungen für eine Anfechtung des Schenkungsvertrags verneint. Doch ließ sich eine Nichtigkeit des Schenkungsvertrags wegen Sittenwidrigkeit mit der vom Berufungsgericht gegebenen Begründung nicht verneinen.

Ein Rechtsgeschäft ist sittenwidrig i.S.v. § 138 Abs. 1 BGB, wenn es nach seinem Inhalt oder Gesamtcharakter gegen das Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden verstößt. Verstößt das Rechtsgeschäft nicht bereits seinem Inhalt nach gegen die grundlegenden Wertungen der Rechts- oder Sittenordnung, muss ein persönliches Verhalten des Handelnden hinzukommen, das diesem zum Vorwurf gemacht werden kann. Hierbei ist der aus der Zusammenfassung von Inhalt, Zweck und Beweggrund zu entnehmende Gesamtcharakter des Verhaltens maßgeblich. Je nach Einzelfall kann sich die Sittenwidrigkeit bereits aus einem dieser Elemente oder aus einer Kombination mehrerer Elemente und deren Summenwirkung ergeben.

Ist der Schenker aufgrund einer objektiven oder subjektiven Zwangslage zur Schenkung veranlasst worden, kann der Vorwurf der Sittenwidrigkeit nicht nur solche Personen treffen, die diese Zwangslage herbeigeführt haben. Vielmehr kann es ausreichen, wenn der Zuwendungsempfänger sich eine bestehende Zwangslage bewusst zu Nutze macht. Diese Voraussetzungen können auch dann gegeben sein, wenn der Zuwendungsempfänger den Schenkungsvertrag abschließt, obwohl er weiß, dass der Schenker aufgrund einer solchen Zwangslage handelt. Hat eine der Vertragsparteien die Verhandlungsführung und den Vertragsschluss vollständig einer mit der Sachlage allein vertrauten Hilfsperson überlassen, muss er sich deren Wissen auch im Rahmen des § 138 Abs. 1 BGB entsprechend § 166 Abs. 1 BGB zurechnen lassen.

Das Berufungsgericht hatte die vom Kläger vorgetragenen Gesichtspunkte, die für die Beurteilung dieser Frage von Bedeutung waren, nicht vollständig berücksichtigt. Es hätte in diesem Zusammenhang zusätzlich den Vortrag berücksichtigen müssen, der Vater der Beklagten habe den Kläger am Abend vor der Beurkundung des Schenkungsvertrags über längere Zeit hinweg "bearbeitet" und am nächsten Morgen in Begleitung der Beklagten zum Notar gefahren, wo ihm erstmals der Inhalt der abzuschließenden Verträge mitgeteilt worden sei. Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts war dieser Vortrag nicht ohne weiteres als inhaltsleer zu bewerten.

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