Sittenwidriger Verkauf von Faksimile
LG Bielefeld v. 17.5.2021 - 6 O 5/19
Der Sachverhalt:
Die Beklagte zu 1) ist eine Vertriebsgesellschaft für Faksimile. Dabei handelt es sich um originalgetreue Nachbildungen oder Reproduktionen, häufig im Falle historisch wertvoller gedruckter oder handschriftlich erstellter Dokumente. Am 19.9.2018 hatte der Beklagte zu 2) die Klägerin bei dieser zu Hause aufgesucht. Dies geschah ohne vorherige Anmeldung und für die Klägerin unerwartet. Bei der Klägerin zu Hause einigte diese sich mit dem Beklagten zu 2) über den Erwerb zweier Faksimiles von der Beklagten zu 1). Dabei handelte es sich um das "Chansonnier de Montchenu, 1380 nummerierte Exemplare" zum Preis von 4.499 € und das "Stundenbuch der Maria Stuart, 999 nummerierte Exemplare" zum Preis von 13.900 €. Bei dem Verkaufsgespräch wies der Beklagte zu 2) darauf hin, dass die beiden Bücher den vereinbarten Preis mindestens Wert seien und dass die Klägerin diese jederzeit wiederverkaufen könne.
Zur Finanzierung dieses Erwerbs schloss die Klägerin unter Vermittlung des Beklagten zu 2) einen Darlehensvertrag über eine Nettodarlehenssumme von 19.000 € mit der B-Bank ab. Diese zahlte die Nettodarlehenssumme an die Klägerin aus. Die Klägerin leitete die Nettodarlehenssumme an die Beklagte zu 1) weiter. Zum Zeitpunkt des Kaufvertragsschlusses war die Beklagte zu 1) die einzige Vertriebsgesellschaft für Faksimile.
Mit Schreiben vom 22.11.2018 erklärten die Prozessbevollmächtigten der Klägerin für diese gegenüber der Beklagten zu 1) die Anfechtung und forderten diese zur sofortigen Rückzahlung des Kaufpreises auf. Die Klägerin behauptete, der Beklagte zu 2) habe bei dem Verkaufsgespräch geäußert, es sei in Bezug auf die erworbenen Bücher eine erhebliche Wertsteigerung zu erwarten. Die erworbenen Faksimiles seien aber bereits bei Vertragsabschluss max. 600 € wert gewesen. Die Beklagte zu 1) wisse auch, was das, was sie der Klägerin verkauft habe, wert sei.
Das LG gab der Klage nach Anhörung eines Sachverständigen weitestgehend statt.
Die Gründe:
Der Klägerin steht ein Anspruch auf Rückzahlung von 18.399 € gegen die Beklagte zu 1) gem. § 812 Abs. 1 S. 1 Var. 1 BGB zu. Der zugrundeliegende Kaufvertrag vom 19.9.2018 war gem. § 138 Abs. 1 BGB als sittenwidriges Geschäft von Anfang an nichtig.
Der objektive Marktwert der hier in Rede stehenden Faksimiles betrug zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses weniger als die Hälfte des vereinbarten Kaufpreises. Für das "Stundenbuch der Maria Stuart" lag der objektive Marktpreis bei 695 € (5 % des Kaufpreises) bis 4.480 € (32 % des Kaufpreises). Für das "Chansonnier de Jean de Montchenu" lag der objektive Marktpreis bei 225 € (5 % des Kaufpreises) bis 1.950 € (43 % des Kaufpreises). Das steht fest aufgrund der nachvollziehbaren Erläuterungen des Sachverständigen in der mündlichen Verhandlung. Faksimiles werden auch im Internet oder über Auktionshäuser von Privatleuten zum Verkauf angeboten. Dabei können, wie der Sachverständige festgestellt hat, im Internet teilweise nur Erlöse in Höhe von ein paar Hundert Euro erzielt werden, auf Auktionen ein Zuschlagspreis in Höhe von 5 bis 10 Prozent des hier vereinbarten Kaufpreises. Die Preise entstehen durch eine lange und kostenaufwändige Produktionskette und die Provisionsforderungen, die im Vertriebssystem anfallen und bestehen letztlich zu einem Gutteil aus Lizenzen und Provisionen, die sich in keiner Weise wertsteigernd darstellen.
Anders als die Beklagten meinten, greift es zur Bestimmung des objektiven Marktwertes der Faksimiles zu kurz, allein auf den Direktvertrieb durch die Beklagte zu 1) abzustellen. Vielmehr ist eine, die einzelnen Vertriebsformen übergreifende Bewertung anzustellen, die auch die oben erläuterten und vom Sachverständigen einbezogenen Vertriebsformen berücksichtigt. Das ergibt sich schon denklogisch aus Folgendem: Sollte nur ein einzelner Anbieter auf eine bestimmte Vertriebsform zum Verkauf eines Produktes zurückgreifen, das Produkt aber anderweitig auch verkauft werden, könnte trotz eines groben Missverhältnisses von Leistung in Gegenleistung in der konkreten Vertriebsform im Vergleich zu anderen Vertriebsformen und trotz Verstoßes gegen das Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkender, der Vertrag niemals sittenwidrig sein. Ein solcher Anbieter könnte sich der Konsequenz des § 138 Abs. 1 BGB durch das Ausweichen auf eine neue Vertriebsform entziehen. Der Schutzgehalt des § 138 Abs. 1 BGB liefe leer.
Neben dem ausgeführten Missverhältnis zwischen Leistung und Gegenleistung treten weitere Umstände des Kaufvertragsschlusses hinzu, die den Kaufvertrag als sittenwidrig prägen. So trägt die von der Beklagten zu 1) gewählte Vertriebsform des Haustürgeschäftes aufgrund der ihr eigenen Überraschungs- und Überforderungswirkung zu einem Ungleichgewicht der Vertragsparteien bei. Ohne, dass ein Haustürgeschäft per se als sittenwidrig einzustufen wäre, führt eine solche Verkaufssituation doch typischerweise zu einer schwächeren Verhandlungsposition des Verbrauchers. Nichts anderes ergibt sich aus den gesetzlichen Schutzvorschriften der §§ 312b ff. BGB. Im Zusammentreffen mit der grob überhöhten Kaufpreisforderung ergibt sich eine Situation, in der die Klägerin aufgrund der für die überraschenden Verkaufssituation überfordert und deshalb eher geneigt war, eine derart übersetzte Zahlungsverpflichtung einzugehen.
Der Klägerin steht hingegen kein Zahlungsanspruch gegen den Beklagten zu 2) zu. Ein solcher ergibt sich gerade nicht aus § 812 Abs. 1 S. 1 Var. 1 BGB, denn der Beklagte zu 2) hat schon nichts durch Leistung der Klägerin erlangt. Den Kaufpreis hat die Beklagte zu 1) in voller Höhe erhalten.
Justiz NRW
Die Beklagte zu 1) ist eine Vertriebsgesellschaft für Faksimile. Dabei handelt es sich um originalgetreue Nachbildungen oder Reproduktionen, häufig im Falle historisch wertvoller gedruckter oder handschriftlich erstellter Dokumente. Am 19.9.2018 hatte der Beklagte zu 2) die Klägerin bei dieser zu Hause aufgesucht. Dies geschah ohne vorherige Anmeldung und für die Klägerin unerwartet. Bei der Klägerin zu Hause einigte diese sich mit dem Beklagten zu 2) über den Erwerb zweier Faksimiles von der Beklagten zu 1). Dabei handelte es sich um das "Chansonnier de Montchenu, 1380 nummerierte Exemplare" zum Preis von 4.499 € und das "Stundenbuch der Maria Stuart, 999 nummerierte Exemplare" zum Preis von 13.900 €. Bei dem Verkaufsgespräch wies der Beklagte zu 2) darauf hin, dass die beiden Bücher den vereinbarten Preis mindestens Wert seien und dass die Klägerin diese jederzeit wiederverkaufen könne.
Zur Finanzierung dieses Erwerbs schloss die Klägerin unter Vermittlung des Beklagten zu 2) einen Darlehensvertrag über eine Nettodarlehenssumme von 19.000 € mit der B-Bank ab. Diese zahlte die Nettodarlehenssumme an die Klägerin aus. Die Klägerin leitete die Nettodarlehenssumme an die Beklagte zu 1) weiter. Zum Zeitpunkt des Kaufvertragsschlusses war die Beklagte zu 1) die einzige Vertriebsgesellschaft für Faksimile.
Mit Schreiben vom 22.11.2018 erklärten die Prozessbevollmächtigten der Klägerin für diese gegenüber der Beklagten zu 1) die Anfechtung und forderten diese zur sofortigen Rückzahlung des Kaufpreises auf. Die Klägerin behauptete, der Beklagte zu 2) habe bei dem Verkaufsgespräch geäußert, es sei in Bezug auf die erworbenen Bücher eine erhebliche Wertsteigerung zu erwarten. Die erworbenen Faksimiles seien aber bereits bei Vertragsabschluss max. 600 € wert gewesen. Die Beklagte zu 1) wisse auch, was das, was sie der Klägerin verkauft habe, wert sei.
Das LG gab der Klage nach Anhörung eines Sachverständigen weitestgehend statt.
Die Gründe:
Der Klägerin steht ein Anspruch auf Rückzahlung von 18.399 € gegen die Beklagte zu 1) gem. § 812 Abs. 1 S. 1 Var. 1 BGB zu. Der zugrundeliegende Kaufvertrag vom 19.9.2018 war gem. § 138 Abs. 1 BGB als sittenwidriges Geschäft von Anfang an nichtig.
Der objektive Marktwert der hier in Rede stehenden Faksimiles betrug zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses weniger als die Hälfte des vereinbarten Kaufpreises. Für das "Stundenbuch der Maria Stuart" lag der objektive Marktpreis bei 695 € (5 % des Kaufpreises) bis 4.480 € (32 % des Kaufpreises). Für das "Chansonnier de Jean de Montchenu" lag der objektive Marktpreis bei 225 € (5 % des Kaufpreises) bis 1.950 € (43 % des Kaufpreises). Das steht fest aufgrund der nachvollziehbaren Erläuterungen des Sachverständigen in der mündlichen Verhandlung. Faksimiles werden auch im Internet oder über Auktionshäuser von Privatleuten zum Verkauf angeboten. Dabei können, wie der Sachverständige festgestellt hat, im Internet teilweise nur Erlöse in Höhe von ein paar Hundert Euro erzielt werden, auf Auktionen ein Zuschlagspreis in Höhe von 5 bis 10 Prozent des hier vereinbarten Kaufpreises. Die Preise entstehen durch eine lange und kostenaufwändige Produktionskette und die Provisionsforderungen, die im Vertriebssystem anfallen und bestehen letztlich zu einem Gutteil aus Lizenzen und Provisionen, die sich in keiner Weise wertsteigernd darstellen.
Anders als die Beklagten meinten, greift es zur Bestimmung des objektiven Marktwertes der Faksimiles zu kurz, allein auf den Direktvertrieb durch die Beklagte zu 1) abzustellen. Vielmehr ist eine, die einzelnen Vertriebsformen übergreifende Bewertung anzustellen, die auch die oben erläuterten und vom Sachverständigen einbezogenen Vertriebsformen berücksichtigt. Das ergibt sich schon denklogisch aus Folgendem: Sollte nur ein einzelner Anbieter auf eine bestimmte Vertriebsform zum Verkauf eines Produktes zurückgreifen, das Produkt aber anderweitig auch verkauft werden, könnte trotz eines groben Missverhältnisses von Leistung in Gegenleistung in der konkreten Vertriebsform im Vergleich zu anderen Vertriebsformen und trotz Verstoßes gegen das Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkender, der Vertrag niemals sittenwidrig sein. Ein solcher Anbieter könnte sich der Konsequenz des § 138 Abs. 1 BGB durch das Ausweichen auf eine neue Vertriebsform entziehen. Der Schutzgehalt des § 138 Abs. 1 BGB liefe leer.
Neben dem ausgeführten Missverhältnis zwischen Leistung und Gegenleistung treten weitere Umstände des Kaufvertragsschlusses hinzu, die den Kaufvertrag als sittenwidrig prägen. So trägt die von der Beklagten zu 1) gewählte Vertriebsform des Haustürgeschäftes aufgrund der ihr eigenen Überraschungs- und Überforderungswirkung zu einem Ungleichgewicht der Vertragsparteien bei. Ohne, dass ein Haustürgeschäft per se als sittenwidrig einzustufen wäre, führt eine solche Verkaufssituation doch typischerweise zu einer schwächeren Verhandlungsposition des Verbrauchers. Nichts anderes ergibt sich aus den gesetzlichen Schutzvorschriften der §§ 312b ff. BGB. Im Zusammentreffen mit der grob überhöhten Kaufpreisforderung ergibt sich eine Situation, in der die Klägerin aufgrund der für die überraschenden Verkaufssituation überfordert und deshalb eher geneigt war, eine derart übersetzte Zahlungsverpflichtung einzugehen.
Der Klägerin steht hingegen kein Zahlungsanspruch gegen den Beklagten zu 2) zu. Ein solcher ergibt sich gerade nicht aus § 812 Abs. 1 S. 1 Var. 1 BGB, denn der Beklagte zu 2) hat schon nichts durch Leistung der Klägerin erlangt. Den Kaufpreis hat die Beklagte zu 1) in voller Höhe erhalten.