Unfall durch rückwärtsfahrenden Bagger - Kardinalpflichten des § 9 Abs. 5 StVO
OLG Hamm v. 19.11.2024 - 7 U 150/23
Der Sachverhalt:
Der Beklagte zu 1) ist von Beruf Baggerfahrer. Er fuhr zum maßgeblichen Zeitpunkt einen Bagger der Beklagten zu 2) auf einem Zufahrtsbereich eines Betriebsgeländes, der nicht ausschließlich für Arbeiter freigegeben war. Der große und massive Bagger verfügte lediglich über eine den direkt rückwärtigen Bereich erfassende Kamera sowie einen linksseitigen Außenspiegel. Beim Abbiegevorgang nach rechts in eine verengte Einfahrt musste der Beklagte zu 1) aufgrund eines falschen Abbiegewinkels anhalten und zurücksetzen. Dabei kam es zu einem Zusammenstoß mit dem Lkw der Klägerin.
Die Klägerin war mit der vorgerichtlichen Zahlung der Beklagten i.H.v. 7.795 € sowie mit dem erstinstanzlichen - weitestgehend klageabweisenden - Urteil des LG nicht einverstanden. Auf die Berufung der Klägerin hat das OLG das Urteil des LG unter Zurückweisung der Berufung im Übrigen abgeändert und die Beklagten als Gesamtschuldner verurteilt, an die Klägerin weitere 9.805 € sowie weitere 1.021 € vorgerichtliche Rechtsverfolgungskosten zu zahlen.
Die Gründe:
Der Klägerin steht unter Berücksichtigung einer Mitverschuldensquote von 30 % und abzüglich der unstreitig vorgerichtlich geleisteten Zahlung gegen die Beklagten ein Anspruch auf Ersatz des unfallbedingten Fahrzeugschadens i.H.v. noch 9.805 € aus § 823 Abs. 1 BGB bzw. § 831 BGB zu.
Eine Haftung nach § 7 Abs. 1 StVG kam hier - wie das LG zutreffend festgestellt hatte- nicht in Betracht, da der beteiligte Bagger der Beklagten zu 1.) gem. § 8 Nr. 1 StVG privilegiert war. Damit konnte entgegen dem Vortrag der Klägerin auch § 17 Abs. 3 StVG nicht zur Anwendung kommen. Abgesehen davon konnte angesichts des Fahrverhaltens des Fahrers des klägerischen Fahrzeugs aus den nachfolgenden Gründen nicht von einer Unabwendbarkeit ausgegangen werden.
Der Beklagte zu 2.) haftet der Klägerin dem Grunde nach gem. § 823 Abs. 1 BGB. Wird ein Bagger auf einem offen zugänglichen Betriebsgelände, ohne dass andere Nutzer des Betriebsgeländes (z.B. Arbeiter, Fußgänger, Radfahrer und Kraftfahrzeugführer) von den von Betriebsfahrzeugen ausgehenden Gefahren ausgeschlossen sind, rückwärts gefahren, sind als spezifische Ausprägung des allgemeinen Rücksichtnahmegebots die Kardinalpflichten des § 9 Abs. 5 StVO zu beachten (in Fortschreibung zu Parkplatzunfällen nach BGH, Urt. v. 17.1.2023 - VI ZR 203/22; BGH, Urt. v. 15.12.2015 - VI ZR 6/15; OLG Hamm, Beschl. v. 9.2.2023 - I-7 U 3/23).
Der Beklagte zu 2.) war verpflichtet, sein beabsichtigtes Rangiermanöver nach dem mangels hinreichenden Raums missglückten Abbiegevorgang erst nach ausreichender Umschau, erforderlichenfalls Einweisung einzuleiten. Als Führer des massiven, schweren und unübersichtlichen Baggers, der nur über eine den direkt rückwärtigen Bereich erfassende Kamera sowie einen linksseitigen Außenspiegel verfügte, konnte er sich, da er nicht im Bereich einer gesicherten Arbeitsstelle, sondern gerade im freigegebenen Zufahrtsverkehr unterwegs war, nicht darauf verlassen, dass hinter ihm zu jeder Zeit frei sein würde. Dies galt umso mehr, da er die Fahrspur hinter sich nicht einsehen konnte.
Die Haftung des Beklagten zu 2.) begründete einen gleichgerichteten Anspruch der Klägerin gegen die Beklagte zu 1.) aus § 831 BGB. Die Klägerin musste sich auf ihren Anspruch einen Mitverschuldensanteil von 30 % anrechnen lassen, § 254 Abs. 1 BGB. Ihr war ein Verstoß ihres Fahrers gegen § 1 Abs. 2 StVO in unmittelbarer oder mittelbarer Anwendung zuzurechnen, da dieser trotz des vor ihm befindlichen Baggers seine Fahrt an diesem vorbei fortgesetzt hatte. Dieser Verstoß erfuhr jedoch entgegen der Würdigung des LG keine spezifische Ausprägung durch § 5 Abs. 3 StVO, denn es lag kein Überholen vor. Ein solcher ist nämlich nur gegeben, wenn ein Verkehrsteilnehmer von hinten an einem anderen vorbeifährt, der sich auf derselben Fahrbahn in derselben Richtung bewegt oder nur mit Rücksicht auf die Verkehrslage anhält.
Das Beklagtenfahrzeug hatte im vorliegenden Fall die Richtungsfahrbahn der Ausfahrt vom Betriebsgelände bereits dahingehend verlassen, dass der Abbiegevorgang nach rechts in den anderen Geländeteil eingeleitet war, aber lediglich wegen des nicht ausreichenden Abbiegewinkels unterbrochen werden musste. Eine Bewegung in derselben Richtung wie der klägerische Lkw war aber bereits zu dem Zeitpunkt, als der Fahrer des Lkw den Bagger zu passieren begann, nicht mehr gegeben. Gleichwohl hätte sich der Fahrer des klägerischen Lkw aufgrund der Gesamtsituation gem. § 1 Abs. 2 StVO veranlasst sehen müssen, seine Annäherung zu verlangsamen, das Fahrverhalten des vor ihm befindlichen Baggers abzuwarten und seine eigene Fahrt ggf. zu unterbrechen.
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Justiz NRW
Der Beklagte zu 1) ist von Beruf Baggerfahrer. Er fuhr zum maßgeblichen Zeitpunkt einen Bagger der Beklagten zu 2) auf einem Zufahrtsbereich eines Betriebsgeländes, der nicht ausschließlich für Arbeiter freigegeben war. Der große und massive Bagger verfügte lediglich über eine den direkt rückwärtigen Bereich erfassende Kamera sowie einen linksseitigen Außenspiegel. Beim Abbiegevorgang nach rechts in eine verengte Einfahrt musste der Beklagte zu 1) aufgrund eines falschen Abbiegewinkels anhalten und zurücksetzen. Dabei kam es zu einem Zusammenstoß mit dem Lkw der Klägerin.
Die Klägerin war mit der vorgerichtlichen Zahlung der Beklagten i.H.v. 7.795 € sowie mit dem erstinstanzlichen - weitestgehend klageabweisenden - Urteil des LG nicht einverstanden. Auf die Berufung der Klägerin hat das OLG das Urteil des LG unter Zurückweisung der Berufung im Übrigen abgeändert und die Beklagten als Gesamtschuldner verurteilt, an die Klägerin weitere 9.805 € sowie weitere 1.021 € vorgerichtliche Rechtsverfolgungskosten zu zahlen.
Die Gründe:
Der Klägerin steht unter Berücksichtigung einer Mitverschuldensquote von 30 % und abzüglich der unstreitig vorgerichtlich geleisteten Zahlung gegen die Beklagten ein Anspruch auf Ersatz des unfallbedingten Fahrzeugschadens i.H.v. noch 9.805 € aus § 823 Abs. 1 BGB bzw. § 831 BGB zu.
Eine Haftung nach § 7 Abs. 1 StVG kam hier - wie das LG zutreffend festgestellt hatte- nicht in Betracht, da der beteiligte Bagger der Beklagten zu 1.) gem. § 8 Nr. 1 StVG privilegiert war. Damit konnte entgegen dem Vortrag der Klägerin auch § 17 Abs. 3 StVG nicht zur Anwendung kommen. Abgesehen davon konnte angesichts des Fahrverhaltens des Fahrers des klägerischen Fahrzeugs aus den nachfolgenden Gründen nicht von einer Unabwendbarkeit ausgegangen werden.
Der Beklagte zu 2.) haftet der Klägerin dem Grunde nach gem. § 823 Abs. 1 BGB. Wird ein Bagger auf einem offen zugänglichen Betriebsgelände, ohne dass andere Nutzer des Betriebsgeländes (z.B. Arbeiter, Fußgänger, Radfahrer und Kraftfahrzeugführer) von den von Betriebsfahrzeugen ausgehenden Gefahren ausgeschlossen sind, rückwärts gefahren, sind als spezifische Ausprägung des allgemeinen Rücksichtnahmegebots die Kardinalpflichten des § 9 Abs. 5 StVO zu beachten (in Fortschreibung zu Parkplatzunfällen nach BGH, Urt. v. 17.1.2023 - VI ZR 203/22; BGH, Urt. v. 15.12.2015 - VI ZR 6/15; OLG Hamm, Beschl. v. 9.2.2023 - I-7 U 3/23).
Der Beklagte zu 2.) war verpflichtet, sein beabsichtigtes Rangiermanöver nach dem mangels hinreichenden Raums missglückten Abbiegevorgang erst nach ausreichender Umschau, erforderlichenfalls Einweisung einzuleiten. Als Führer des massiven, schweren und unübersichtlichen Baggers, der nur über eine den direkt rückwärtigen Bereich erfassende Kamera sowie einen linksseitigen Außenspiegel verfügte, konnte er sich, da er nicht im Bereich einer gesicherten Arbeitsstelle, sondern gerade im freigegebenen Zufahrtsverkehr unterwegs war, nicht darauf verlassen, dass hinter ihm zu jeder Zeit frei sein würde. Dies galt umso mehr, da er die Fahrspur hinter sich nicht einsehen konnte.
Die Haftung des Beklagten zu 2.) begründete einen gleichgerichteten Anspruch der Klägerin gegen die Beklagte zu 1.) aus § 831 BGB. Die Klägerin musste sich auf ihren Anspruch einen Mitverschuldensanteil von 30 % anrechnen lassen, § 254 Abs. 1 BGB. Ihr war ein Verstoß ihres Fahrers gegen § 1 Abs. 2 StVO in unmittelbarer oder mittelbarer Anwendung zuzurechnen, da dieser trotz des vor ihm befindlichen Baggers seine Fahrt an diesem vorbei fortgesetzt hatte. Dieser Verstoß erfuhr jedoch entgegen der Würdigung des LG keine spezifische Ausprägung durch § 5 Abs. 3 StVO, denn es lag kein Überholen vor. Ein solcher ist nämlich nur gegeben, wenn ein Verkehrsteilnehmer von hinten an einem anderen vorbeifährt, der sich auf derselben Fahrbahn in derselben Richtung bewegt oder nur mit Rücksicht auf die Verkehrslage anhält.
Das Beklagtenfahrzeug hatte im vorliegenden Fall die Richtungsfahrbahn der Ausfahrt vom Betriebsgelände bereits dahingehend verlassen, dass der Abbiegevorgang nach rechts in den anderen Geländeteil eingeleitet war, aber lediglich wegen des nicht ausreichenden Abbiegewinkels unterbrochen werden musste. Eine Bewegung in derselben Richtung wie der klägerische Lkw war aber bereits zu dem Zeitpunkt, als der Fahrer des Lkw den Bagger zu passieren begann, nicht mehr gegeben. Gleichwohl hätte sich der Fahrer des klägerischen Lkw aufgrund der Gesamtsituation gem. § 1 Abs. 2 StVO veranlasst sehen müssen, seine Annäherung zu verlangsamen, das Fahrverhalten des vor ihm befindlichen Baggers abzuwarten und seine eigene Fahrt ggf. zu unterbrechen.
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