Unfall eines mit Blaulicht und Martinshorn bei Rot in den Kreuzungsbereich einfahrenden Rettungswagens
LG Stuttgart v. 14.6.2022 - 12 O 423/20
Der Sachverhalt:
Am 10.6.2020 gegen 11.00 Uhr war die Zeugin N. mit dem VW T6 California Beach der Klägerin auf der B 295 in Fahrtrichtung Stuttgart unterwegs. An einer Kreuzung fuhr sie auf der rechten von zwei Geradeausspuren, für die eine maximale Geschwindigkeit von 60 km/h gilt. Der Rettungswagen der Beklagten zu 2), der bei der Beklagten zu 1) haftpflichtversichert ist, fuhr ebenfalls in die Kreuzung ein. Dabei kam der Rettungswagen aus Sicht der Zeugin N. von links. Im Kreuzungsbereich kollidierten die beiden Fahrzeuge, wobei die Zeugin N. auf den vor ihr querende Rettungswagen auffuhr. Am VW T6 entstand hierdurch ein Totalschaden. Der Beklagte zu 3) war am Unfalltag Fahrer des Rettungswagens.
Die Klägerin behauptete, die Zeugin N. habe bei Grünlicht die Kreuzung überquert. Der Rettungswagen sei bei Rotlicht in die Kreuzung eingefahren. Die Zeugin N. habe weder ein Blaulicht gesehen noch ein Martinshorn vernommen. Auf der linken Geradeausspur sei ein Baustellensicherungsfahrzeug gestanden und habe diese Fahrspur aufgrund einer sich nach der Kreuzung in Richtung Stuttgart befindlichen Baustelle gesperrt. Der Unfall sei für die Zeugin N. unvermeidbar gewesen, da das Baustellensicherungsfahrzeug mit Anhänger die Sicht auf den Rettungswagen versperrt und schallversperrend gewirkt habe.
Vom Gesamtschaden i.H.v. 50.490 € wurden zwischenzeitlich 21.777 € beglichen. Die Klägerin forderte von den Beklagten weiteren Schadensersatz i.H.v. 28.713 €. Die Beklagten behaupteten, der Beklagte zu 3) sei allenfalls mit Schrittgeschwindigkeit in die Kreuzung eingefahren, die Zeugin N. hingegen mit einer Geschwindigkeit von 80 km/h. Das Martinshorn sei zum Unfallzeitpunkt mit Druckluft betrieben worden und daher weithin hörbar gewesen. Mehr als eine Mithaftung von 25 % aus Betriebsgefahr komme nicht in Betracht.
Das LG hat der Klägerin weiteren Schadensersatz i.H.v. 11.977 € zugesprochen und die Klage im Übrigen abgewiesen.
Die Gründe:
Die Haftungsquote aus dem Verkehrsunfall beträgt 25 % zu 75 % zu Lasten der Beklagten.
Zwar konnte der Sachverständige nicht sicher feststellen, ob die Zeugin N. das Martinshorn hören konnte oder nicht. Da somit die genauen Umstände für die Verbreitung des akustischen Signals nicht mehr rekonstruierbar waren, konnte die für das Vorliegen der Unvermeidbarkeit darlegungs- und beweisbelastete Klägerin nicht nachweisen, dass die Zeugin N. das Martinshorn nicht hören konnte. Dabei konnte unterstellt werden, dass die Zeugin N. subjektiv das Martinshorn nicht wahrgenommen hatte. Denn aufgrund der Unsicherheit, ob eine Wahrnehmbarkeit möglich war, war davon auszugehen, dass der Idealfahrer das Martinshorn gehört und dann erst einmal abgebremst und geschaut hätte, von woher das Rettungsfahrzeug kommt.
Den Beklagten zu 3) traf ein Verschulden am Unfall, weil er zu früh nach dem Einfahren in den Kreuzungsbereich wieder beschleunigt und daher mit einer zu hohen Geschwindigkeit die Geradeausfahrbahn der Zeugin N. überquert hatte. Insoweit lag ein Verstoß gegen §§ 3 Abs. 1 und 1 Abs. 2 StVO vor. Gem. § 35 Abs. 5a StVO war der Beklagte zu 3) zum Unfallzeitpunkt zwar von den Vorschriften der StVO befreit. Allerdings dürfen diese Sonderrechte gem. § 35 Abs. 7 StVO nur unter gebührender Berücksichtigung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ausgeübt werden. Zwar bedeutet nicht jede leichte Fahrlässigkeit einen Verstoß gegen § 35 Abs. 7 StVO. Allerdings verpflichtet die gebotene Rücksichtnahme den privilegierten Fahrer, sich zunächst langsam in die Kreuzung "hineinzutasten". Der Fahrer muss also zunächst mit so geringer Geschwindigkeit fahren, dass er sofort anhalten kann, wenn er ein vorfahrtsberechtigtes Fahrzeug erkennt. Erst wenn er sich hinreichend vergewissert hat, dass der Querverkehr das privilegierte Fahrzeug erkannt hat und ihm den Vorrang einräumt, darf er wieder beschleunigen.
Dagegen ist ein Verschulden der Zeugin N. nicht nachgewiesen und ergibt sich auch nicht aus den sonstigen Umständen. Der Sachverständige hatte unter Berücksichtigung der im Unfallzeitpunkt nassen Fahrbahn festgestellt, dass die Zeugin N. das Martinshorn ca. 38 m vor der Kollision hätte wahrnehmen müssen, um mit einem darauffolgenden Bremsmanöver das Unfallgeschehen vermeiden zu können. Jedoch konnte der Sachverständige aus technischer Sicht nicht sicher feststellen, dass an dieser Stelle das Martinshorn für die Zeugin N. hörbar war. Denn es waren Konstellationen von Fahrzeugstellungen möglich, die eine ausreichende Schallweiterleitung zu diesem Punkt verhindern konnten. Diese Zweifel gingen zu Lasten der Beklagten.
Ferner wäre der Unfall nach den Feststellungen des Sachverständigen nur bei einer Annäherungsgeschwindigkeit von 32 km/h für die Zeugin N. durch eine Bremsung vermeidbar gewesen. Eine solch niedrige Annäherungsgeschwindigkeit war jedoch auch unter der Berücksichtigung der Baustelle nicht geboten, weil dies den bereits durch den Wegfall der linken Geradeausspur bereits eingeschränkten Verkehrsfluss zusätzlich behindert hätte.
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Zwar konnte der Sachverständige nicht sicher feststellen, ob die Zeugin N. das Martinshorn hören konnte oder nicht. Da somit die genauen Umstände für die Verbreitung des akustischen Signals nicht mehr rekonstruierbar waren, konnte die für das Vorliegen der Unvermeidbarkeit darlegungs- und beweisbelastete Klägerin nicht nachweisen, dass die Zeugin N. das Martinshorn nicht hören konnte. Dabei konnte unterstellt werden, dass die Zeugin N. subjektiv das Martinshorn nicht wahrgenommen hatte. Denn aufgrund der Unsicherheit, ob eine Wahrnehmbarkeit möglich war, war davon auszugehen, dass der Idealfahrer das Martinshorn gehört und dann erst einmal abgebremst und geschaut hätte, von woher das Rettungsfahrzeug kommt.
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Ferner wäre der Unfall nach den Feststellungen des Sachverständigen nur bei einer Annäherungsgeschwindigkeit von 32 km/h für die Zeugin N. durch eine Bremsung vermeidbar gewesen. Eine solch niedrige Annäherungsgeschwindigkeit war jedoch auch unter der Berücksichtigung der Baustelle nicht geboten, weil dies den bereits durch den Wegfall der linken Geradeausspur bereits eingeschränkten Verkehrsfluss zusätzlich behindert hätte.
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