30.04.2024

Verschulden eines Rechtsanwalts, der ein vermeintlich verfrüht eingelegtes Rechtsmittel wieder zurücknimmt und dadurch die Rechtsmittelfrist versäumt

Der BGH hat sich zum Verschulden eines Rechtsanwalts geäußert, der ein vermeintlich verfrüht eingelegtes Rechtsmittel wieder zurückgenommen und dadurch die Rechtsmittelfrist versäumt hatte. Dieser habe die Beschwerdefrist nicht unverschuldet versäumt, selbst wenn das Gericht einen unzutreffenden rechtlichen Standpunkt eingenommen habe in Bezug auf die Wirksamkeit der Zustellung des Ausgangsbeschlusses. Dies hätte den Anwalt nicht dazu veranlassen dürfen, seine bereits eingelegte Beschwerde zurückzunehmen. Denn wenn die Rechtslage zweifelhaft sei, müsse der Anwalt den sicheren Weg wählen.

BGH v. 6.3.2024 - XII ZB 408/23
Der Sachverhalt:
Das FamG hat die Ehe der Beteiligten geschieden, den Versorgungsausgleich durchgeführt und den Antragsteller zur Zahlung von nachehelichem Unterhalt und Zugewinnausgleich an die Antragsgegnerin verpflichtet. Der Beschluss, versehen mit einem umfassenden Rechtskraftvermerk, wurde dem Antragsteller am 6.4.2023 zugestellt. Noch am selben Tag hat der Antragsteller beantragt, den Beschluss dahin zu berichtigen, dass dieser nur hinsichtlich des Scheidungsausspruchs rechtskräftig sei.

Am 27.4.2023 hat das FamG die versehentlich mit dem umfassenden Rechtskraftvermerk versehenen Abschriften zwecks erneuter Zustellung mit dem Hinweis zurückgefordert, dass eine schwerwiegende Abweichung von der Urschrift vorliege, die zur Unwirksamkeit der Zustellung führe.

Am 8.5.2023, einem Montag, hat der Antragsteller Beschwerde gegen die Verpflichtung zur Zahlung von nachehelichem Unterhalt eingelegt und ausgeführt, dass das Rechtsmittel nur fristwahrend eingelegt werde, da die am 6.4.2023 erfolgte Zustellung des Beschlusses wegen schwerwiegender Abweichung von der Urschrift unwirksam und der Beschluss in korrekter Fassung noch nicht (erneut) zugestellt worden sei. Er behalte sich vor, die Beschwerde zu begründen bzw. zurückzunehmen und bitte um einen entsprechenden Hinweis des Gerichts.

Ebenfalls noch unter dem 8.5.2023 hat das FamG durch richterliche Verfügung mitgeteilt, dass die erneute Zustellung veranlasst werde, sobald alle fehlerhaften Ausfertigungen zurückgelangt seien. Auf diesen Hinweis hat der Antragsteller die am 8.5.2023 "vorsorglich fristwahrend eingelegte" Beschwerde zurückgenommen.

Unter dem 17.5.2023 hat das FamG durch richterliche Verfügung mitgeteilt, dass es an der Auffassung festhalte, dass die erste Zustellung nicht wirksam erfolgt sei. Eine Abschrift des Beschlusses mit fehlerfreiem Rechtskraftvermerk ist dem Antragsteller am 15.5.2023 zugestellt worden.

Am 13.6.2023 hat er erneut Beschwerde in Bezug auf die Unterhaltsverpflichtung eingelegt und diese begründet. Auf Hinweis des Beschwerdegerichts hat der Antragsteller am 3.8.2023 vorsorglich Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die versäumte Beschwerdebegründungsfrist beantragt. Er habe darauf vertraut, dass der Beschluss nicht als am 6.4.2023 zugestellt gelte, nachdem das FamG die Abschrift zwecks deren Berichtigung und erneuter Zustellung zurückgefordert und entsprechende richterliche Hinweise erteilt habe.

Das Beschwerdegericht wies den Wiedereinsetzungsantrag zurück und verwarf die Beschwerde als unzulässig. Der BGH hat die Rechtsbeschwerde des Antragstellers verworfen.

Die Gründe:
Der angefochtene Beschluss verletzt den Antragsteller nicht in seinem verfahrensrechtlich gewährleisteten Anspruch auf wirkungsvollen Rechtsschutz (Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip).

Der Beschluss ist wirksam am 6.4.2023 zugestellt worden. Die Beschwerdefrist von einem Monat begann daher hier mit der Zustellung am 6.4.2023 und endete am Montag, dem 8.5.2023. Die an diesem Tag eingelegte Beschwerde hat der Antragsteller jedoch mit weiterem Schriftsatz vom 11.5.2023 wieder zurückgenommen. Für die Wirksamkeit der Rücknahme als verfahrensleitende Erklärung kommt es nicht auf die Motive an, aus denen heraus sie erklärt wurde.

Zwar hat der Antragsteller am 13.6.2023 erneut Beschwerde eingelegt. Diese war jedoch verspätet. Die bereits abgelaufene Frist ist auch nicht durch erneute Zustellung des Beschlusses am 15.5.2023 neu in Gang gesetzt worden.

Die Voraussetzungen für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand sind nicht erfüllt. Denn der Antragsteller hat die Beschwerdefrist nicht unverschuldet versäumt. Vielmehr beruht das Versäumnis auf einem Verschulden seiner Verfahrensbevollmächtigten, welches er sich nach § 85 Abs. 2 ZPO zurechnen lassen muss.

Die Fristversäumung ist auch in den Fällen einer unrichtigen Rechtsbehelfsbelehrung nicht unverschuldet, wenn diese offenkundig falsch gewesen ist und deshalb - ausgehend von dem bei einem Rechtsanwalt vorauszusetzenden Kenntnisstand - nicht einmal den Anschein der Richtigkeit zu erwecken vermochte (BGH v. 25.11.2020 - XII ZB 256/20 - FamRZ 2021, 444 Rn. 7 mwN). Nach diesen Maßstäben war die Versäumung der Beschwerdefrist durch die Verfahrensbevollmächtigte des Antragstellers nicht unverschuldet. Denn für sie war das gegebene Rechtsmittel offenkundig. Sie selbst hat das Gericht auf den Fehler hingewiesen und die zulässige Beschwerde am 8.5.2023 fristgerecht eingelegt.

Ein Wiedereinsetzungsgrund ergibt sich auch nicht daraus, dass das FamG dem Antragsteller unzutreffende rechtliche Hinweise erteilt und ihn damit in einer die Grundsätze des fairen Verfahrens verletzenden Weise dazu veranlasst hätte, die bereits zulässig eingelegte Beschwerde wieder zurückzunehmen. Denn das FamG hat nicht angeraten, die eingelegte Beschwerde wieder zurückzunehmen. Es hat lediglich zu erkennen gegeben, dass es die am 6.4.2023 erfolgte Zustellung für unwirksam und wiederholungsbedürftig hielt. Selbst wenn es dabei einen unzutreffenden rechtlichen Standpunkt eingenommen hat, durfte dies den Antragsteller nicht dazu veranlassen, seine bereits eingelegte Beschwerde zurückzunehmen.

Denn wenn die Rechtslage zweifelhaft ist, muss der bevollmächtigte Anwalt den sicheren Weg wählen.

Mehr zum Thema:

Rechtsprechung:
Keine Wiedereinsetzung bei offensichtlich falscher Rechtsmittelbelehrung
BGH vom 19.4.2023 - IV ZB 23/22
FamRZ 2023, 1140

Rechtsprechung:
Vermutung fehlenden Verschuldens bei falscher Rechtsmittelbelehrung
BGH vom 1.3.2023 - XII ZB 18/22
MDR 2023, 800

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