Was spricht für einen manipulierten Verkehrsunfall?
Schleswig-Holsteinisches OLG v. 21.10.2022 - 7 U 140/22
Der Sachverhalt:
Der Kläger ist ein Gebrauchtwagenhändler. Er war am 5.3.2020 mit seinem Mercedes-Benz S 350 BlueTEC (Erstzulassung 23.10.2015, Laufleistung 122.378 km, nächster TÜV-Termin 07/2020) unterwegs. Auf dem Beifahrersitz saß sein Bruder. Die Beklagte zu 1) war die Fahrerin eines VW Polo (Erstzulassung 31.7.2001, Fahrleistung mind. 232.355 km), den sie erst wenige Tage vor dem Unfallgeschehen von der Beklagten zu 2) für 850 € erworben hatte. Bei der Beklagten zu 2) handelt es sich um die Halterin des bei der Beklagten zu 3) zum Unfallfallzeitpunkt haftpflichtversicherten VW Polo.
An dem 5.3.2020 kam es zu einer Kollision beider Fahrzeuge bei dem Versuch der Beklagten zu 1), rückwärts aus einer rechtsseitigen Parklücke auszuparken. Der Kläger hat behauptet, die Beklagte zu 1) sei rückwärts mit dem Polo so schnell aus der rechtsseitigen Parklücke herausgekommen, dass er keine Möglichkeit mehr gehabt habe, auszuweichen. Sein Fahrzeug Mercedes wurde dabei im vorderen rechten Bereich beschädigt. Der Kläger hat ferner behauptet, er sei durch die Kollision verletzt worden. Es wurde am 6.3.2020 eine HWS Zerrung, LWS Zerrung und eine Knieprellung links diagnostizierte.
Der Kläger beanspruchte insoweit die Zahlung eines angemessenen Schmerzensgeldes i.H.v. mind. 750 €. Außerdem verlangte er die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an ihn 30.978 € Schadensersatz zu zahlen. Allein die Reparaturkosten beliefen sich laut Privatgutachtens auf rund 26.958 €. Der Kläger ließ das Fahrzeug nach dem Unfall allerdings anderweitig instandsetzen. Der Privatgutachter bestätigte, dass das Fahrzeug "abweichend vom vorgesehenen Reparaturweg" instandgesetzt worden ist.
Die Beklagte zu 1) hat behauptet, es handle sich um einen durch den Kläger provozierten Unfall. Dieser habe nämlich ihren herausfahrenden VW Polo abgepasst, um dadurch bewusst einen Streifschaden an seinem Fahrzeug zu verursachen. Die Beklagten zu 2) und 3) behaupteten, dass es sich um ein manipuliertes Unfallgeschehen handle und der Kläger mit der Beklagten zu 1) kollusiv zusammengewirkt habe.
Das LG hat die Klage abgewiesen. Das OLG hat die Entscheidung im Berufungsverfahren bestätigt.
Die Gründe:
Dem Kläger stehen aufgrund des Geschehens vom 5.3.2020 Schadenersatz- und Schmerzensgeldansprüche gegen die Beklagten aus den als Anspruchsgrundlage in Betracht kommenden Normen §§ 7, 11, 17, 18 StVG, 823, 249 ff., 253 BGB i.V.m. § 115 VVG schon dem Grunde nach nicht zu. Vielmehr ist der Senat - wie auch das LG - i.S. v. § 286 ZPO davon überzeugt, dass es sich bei dem hier streitgegenständlichen Kollisionsgeschehen tatsächlich nicht um einen Unfall im Rechtssinne, sondern um ein manipuliertes Geschehen in Form eines abgesprochenen oder provozierten Unfalls gehandelt hat. In beiden Fällen fehlt es an der Rechtswidrigkeit der Schadenzufügung.
Bei einer - wie hier - vorliegenden Konstellation mit dem Verdacht auf ein abgesprochenes oder provoziertes Unfallereignis kann der vom Kraftfahrzeughaftpflichtversicherer zu erbringende Nachweis, dass der Geschädigte entweder in die Beschädigung seines Fahrzeugs eingewilligt oder aber das Kollisionsgeschehen provoziert hat, im Rahmen des sog. Indizienbeweises geführt werden. Dieser Beweis ist bereits dann geführt, wenn sich eine Häufung von Umständen und Beweiszeichen findet, die in der Gesamtschau nach richterlicher Überzeugung darauf hindeutet. Typische Beweisanzeichen können sich aus dem Unfallhergang, der Art der Schäden, der Art der beteiligten Fahrzeuge, dem Anlass der Fahrt, fehlender Kompatibilität, persönlichen Beziehungen oder den wirtschaftlichen Verhältnissen der Parteien ergeben.
Bei einem provozierten Unfall werden bewusst bestimmte Verkehrssituationen wie z.B. Rechts-vor-links-Regelung, Spurwechsel im Kreisverkehr oder Ausscheren aus einer Parklücke zur Herbeiführung einer Kollision mit scheinbar klarer Verantwortlichkeit ausgenutzt. Der Täter nutzt dabei gezielt die ihm bekannten Besonderheiten der Verkehrsführung aus, um mit dem Opferfahrzeug eine Kollision mit möglichst zweifelsfreier Verschuldensfrage herbeizuführen.
Bei der Reparatur eines Blechschadens - wie hier - unter der Hand oder in einer nicht markengebundenen Werkstatt kann sich durch die fiktive Abrechnung allein bei den Lohnkosten ein erheblicher Gewinn erzielen lassen ("lukrativer Seitenschaden"). Die vom Gutachter geschätzten Stundenverrechnungssätze einer Mercedes-Vertragswerkstatt liegen zwischen 171 €/h und 197 €/h. Das klägerische Fahrzeug ist geradezu idealtypisch dafür, selbst bei leichteren Kollisionen hohe Schäden zu verursachen, die in freien Werkstätten für relativ "kleines Geld" mit Gebrauchtteilen, Spachtelmasse und Lack kostengünstig beseitigt werden können.
Auch die hier vorliegende Unfallsituation eines "unachtsamen Ausparkens" aus einer Parklücke mit fehlenden neutralen Zeugen und vermeintlich klarer Haftungslage kann Indiz für ein manipuliertes Kollisionsgeschehen sein. Der Umstand, dass nach der Kollision die Polizei benachrichtigt worden ist, spricht weder für noch gegen eine Manipulation. Das Merkmal ist vielmehr ambivalent, weil gerade auch die fehlende Einschaltung der Polizei ein Indiz für ein kollusives Zusammenwirken sein könnte.
Mehr zum Thema:
Rechtsprechung:
Abgas-Skandal: Thermofenster als unzulässige Abschalteinrichtung
EuGH vom 14.07.2022 - C-128/20
MDR 2022, 1018
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Landesregierung Schleswig-Holstein
Der Kläger ist ein Gebrauchtwagenhändler. Er war am 5.3.2020 mit seinem Mercedes-Benz S 350 BlueTEC (Erstzulassung 23.10.2015, Laufleistung 122.378 km, nächster TÜV-Termin 07/2020) unterwegs. Auf dem Beifahrersitz saß sein Bruder. Die Beklagte zu 1) war die Fahrerin eines VW Polo (Erstzulassung 31.7.2001, Fahrleistung mind. 232.355 km), den sie erst wenige Tage vor dem Unfallgeschehen von der Beklagten zu 2) für 850 € erworben hatte. Bei der Beklagten zu 2) handelt es sich um die Halterin des bei der Beklagten zu 3) zum Unfallfallzeitpunkt haftpflichtversicherten VW Polo.
An dem 5.3.2020 kam es zu einer Kollision beider Fahrzeuge bei dem Versuch der Beklagten zu 1), rückwärts aus einer rechtsseitigen Parklücke auszuparken. Der Kläger hat behauptet, die Beklagte zu 1) sei rückwärts mit dem Polo so schnell aus der rechtsseitigen Parklücke herausgekommen, dass er keine Möglichkeit mehr gehabt habe, auszuweichen. Sein Fahrzeug Mercedes wurde dabei im vorderen rechten Bereich beschädigt. Der Kläger hat ferner behauptet, er sei durch die Kollision verletzt worden. Es wurde am 6.3.2020 eine HWS Zerrung, LWS Zerrung und eine Knieprellung links diagnostizierte.
Der Kläger beanspruchte insoweit die Zahlung eines angemessenen Schmerzensgeldes i.H.v. mind. 750 €. Außerdem verlangte er die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an ihn 30.978 € Schadensersatz zu zahlen. Allein die Reparaturkosten beliefen sich laut Privatgutachtens auf rund 26.958 €. Der Kläger ließ das Fahrzeug nach dem Unfall allerdings anderweitig instandsetzen. Der Privatgutachter bestätigte, dass das Fahrzeug "abweichend vom vorgesehenen Reparaturweg" instandgesetzt worden ist.
Die Beklagte zu 1) hat behauptet, es handle sich um einen durch den Kläger provozierten Unfall. Dieser habe nämlich ihren herausfahrenden VW Polo abgepasst, um dadurch bewusst einen Streifschaden an seinem Fahrzeug zu verursachen. Die Beklagten zu 2) und 3) behaupteten, dass es sich um ein manipuliertes Unfallgeschehen handle und der Kläger mit der Beklagten zu 1) kollusiv zusammengewirkt habe.
Das LG hat die Klage abgewiesen. Das OLG hat die Entscheidung im Berufungsverfahren bestätigt.
Die Gründe:
Dem Kläger stehen aufgrund des Geschehens vom 5.3.2020 Schadenersatz- und Schmerzensgeldansprüche gegen die Beklagten aus den als Anspruchsgrundlage in Betracht kommenden Normen §§ 7, 11, 17, 18 StVG, 823, 249 ff., 253 BGB i.V.m. § 115 VVG schon dem Grunde nach nicht zu. Vielmehr ist der Senat - wie auch das LG - i.S. v. § 286 ZPO davon überzeugt, dass es sich bei dem hier streitgegenständlichen Kollisionsgeschehen tatsächlich nicht um einen Unfall im Rechtssinne, sondern um ein manipuliertes Geschehen in Form eines abgesprochenen oder provozierten Unfalls gehandelt hat. In beiden Fällen fehlt es an der Rechtswidrigkeit der Schadenzufügung.
Bei einer - wie hier - vorliegenden Konstellation mit dem Verdacht auf ein abgesprochenes oder provoziertes Unfallereignis kann der vom Kraftfahrzeughaftpflichtversicherer zu erbringende Nachweis, dass der Geschädigte entweder in die Beschädigung seines Fahrzeugs eingewilligt oder aber das Kollisionsgeschehen provoziert hat, im Rahmen des sog. Indizienbeweises geführt werden. Dieser Beweis ist bereits dann geführt, wenn sich eine Häufung von Umständen und Beweiszeichen findet, die in der Gesamtschau nach richterlicher Überzeugung darauf hindeutet. Typische Beweisanzeichen können sich aus dem Unfallhergang, der Art der Schäden, der Art der beteiligten Fahrzeuge, dem Anlass der Fahrt, fehlender Kompatibilität, persönlichen Beziehungen oder den wirtschaftlichen Verhältnissen der Parteien ergeben.
Bei einem provozierten Unfall werden bewusst bestimmte Verkehrssituationen wie z.B. Rechts-vor-links-Regelung, Spurwechsel im Kreisverkehr oder Ausscheren aus einer Parklücke zur Herbeiführung einer Kollision mit scheinbar klarer Verantwortlichkeit ausgenutzt. Der Täter nutzt dabei gezielt die ihm bekannten Besonderheiten der Verkehrsführung aus, um mit dem Opferfahrzeug eine Kollision mit möglichst zweifelsfreier Verschuldensfrage herbeizuführen.
Bei der Reparatur eines Blechschadens - wie hier - unter der Hand oder in einer nicht markengebundenen Werkstatt kann sich durch die fiktive Abrechnung allein bei den Lohnkosten ein erheblicher Gewinn erzielen lassen ("lukrativer Seitenschaden"). Die vom Gutachter geschätzten Stundenverrechnungssätze einer Mercedes-Vertragswerkstatt liegen zwischen 171 €/h und 197 €/h. Das klägerische Fahrzeug ist geradezu idealtypisch dafür, selbst bei leichteren Kollisionen hohe Schäden zu verursachen, die in freien Werkstätten für relativ "kleines Geld" mit Gebrauchtteilen, Spachtelmasse und Lack kostengünstig beseitigt werden können.
Auch die hier vorliegende Unfallsituation eines "unachtsamen Ausparkens" aus einer Parklücke mit fehlenden neutralen Zeugen und vermeintlich klarer Haftungslage kann Indiz für ein manipuliertes Kollisionsgeschehen sein. Der Umstand, dass nach der Kollision die Polizei benachrichtigt worden ist, spricht weder für noch gegen eine Manipulation. Das Merkmal ist vielmehr ambivalent, weil gerade auch die fehlende Einschaltung der Polizei ein Indiz für ein kollusives Zusammenwirken sein könnte.
Rechtsprechung:
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EuGH vom 14.07.2022 - C-128/20
MDR 2022, 1018
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