Weiterleitung einer empfangsbedürftigen Willenserklärung an den Empfänger durch das Gericht mit elektronischer Signatur
BGH v. 27.11.2024 - VIII ZR 155/23
Der Sachverhalt:
Die Beklagte ist neben einem bereits rechtskräftig zur Räumung und Herausgabe verurteilten Mitmieter Mieterin einer Wohnung der Klägerin in Bonn. Für den Zeitraum von Januar 2019 bis Juli 2020 wurde die mtl. Kaltmiete von jeweils rd. 380 € nicht bezahlt, so dass ein Mietrückstand in Höhe eines Betrages von insgesamt rd. 7.160 € besteht.
Das AG wies die auf Räumung und Herausgabe der Wohnung gerichtete Klage mit Versäumnisurteil vom 19.8.2022 zunächst ab; das Urteil wurde dem Prozessbevollmächtigten der Klägerin am 22.8.2022 zugestellt. Mit elektronischem Schriftsatz vom 5.9.2022 legte der Prozessbevollmächtigte der Klägerin Einspruch gegen das Versäumnisurteil ein und erklärte erstmals gegenüber der Beklagten die außerordentliche fristlose Kündigung des Mietverhältnisses wegen des oben genannten Zahlungsrückstands. Dieser Schriftsatz war durch den Prozessbevollmächtigten der Klägerin namentlich gekennzeichnet sowie mit einer qualifizierten elektronischen Signatur versehen und wurde dem Prozessbevollmächtigten der Beklagten am 6.9.2022 durch das AG elektronisch übermittelt.
Das AG hob daraufhin das Versäumnisurteil auf und gab der Klage statt. Das LG wies die Klage ab. Auf die Revision der Klägerin hob der BGH das Urteil des LG auf und verwies die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung dorthin zurück.
Die Gründe:
Mit der vom LG gegebenen Begründung kann die Nichtigkeit der in der Einspruchsschrift vom 5.9.2022 enthaltenen Kündigungserklärung wegen Formunwirksamkeit gem. § 125 Satz 1 BGB nicht angenommen werden. Die Annahme des LG, die Legitimationswirkung einer qualifizierten elektronischen Signatur bestehe nur gegenüber dem Gericht, so dass ein qualifiziert elektronisch signierter elektronischer Schriftsatz nicht formwahrend vom Gericht elektronisch an den Kündigungsempfänger bzw. dessen Prozessbevollmächtigten weitergeleitet werden könne, ist rechtsfehlerhaft.
Die Beurteilung des vorliegenden Falles richtet sich nach der vor dem Inkrafttreten des § 130e ZPO am 17.7.2024 geltenden Rechtslage. Das LG ist hierbei zunächst jedenfalls im Ergebnis zu Recht davon ausgegangen, dass die gem. § 568 Abs. 1 BGB für die Kündigung eines Wohnraummietverhältnisses erforderliche Schriftform, welche nach § 126 Abs. 1 BGB eine Unterzeichnung der Urkunde mittels eigenhändiger Namensunterschrift oder mittels notariell beglaubigten Handzeichens voraussetzt, gem. § 126 Abs. 3 BGB in dem hier vorliegenden Fall der Kündigungserklärung in einem zivilprozessualen Schriftsatz, der an den anwaltlichen Bevollmächtigten des Kündigungsempfängers elektronisch weitergeleitet wird, durch die elektronische Form i.S.v. § 126a Abs. 1 BGB ersetzt werden kann.
Mit der vom LG gegebenen Begründung kann ein formgerechter Zugang der in dem elektronischen Schriftsatz vom 5.9.2022 enthaltenen Willenserklärung beim Prozessbevollmächtigten der Beklagten (§ 130 Abs. 1 Satz 1 BGB) nicht verneint werden. Nach ständiger Rechtsprechung ist es zur Wahrung einer für eine empfangsbedürftige Willenserklärung vorgeschriebenen Form nicht ausreichend, dass diese nach den jeweiligen Formvorschriften abgegeben wurde. Sie muss vielmehr, um wirksam zu werden, dem Erklärungsgegner auch in der vorgeschriebenen Form gem. § 130 BGB zugehen. Dieses Zugangserfordernis gilt auch für den Fall einer empfangsbedürftigen Willenserklärung in elektronischer Form.
Für den Zugang einer in einem qualifiziert elektronisch signierten elektronischen Dokument enthaltenen Willenserklärung ist es daher erforderlich, dass dieses Dokument so in den Machtbereich des Empfängers gelangt, dass dieser die qualifizierte elektronische Signatur des Erklärenden und damit die Echtheit des Dokuments prüfen kann. Diese Voraussetzungen sind in dem Zeitraum vor dem Inkrafttreten der Vorschrift des § 130e ZPO erfüllt, wenn in einem Zivilprozess ein elektronischer Schriftsatz mit einer gültigen qualifizierten elektronischen Signatur, der eine empfangsbedürftige Willenserklärung enthält, vom Gericht unter Aufrechterhaltung der elektronischen Signatur elektronisch an den Empfänger der Willenserklärung weitergeleitet wird.
Zwar wird die vom LG für seine entgegenstehende Ansicht angeführte Begründung, die Legitimationswirkung der Signatur des Absenders gelte nur gegenüber dem Gericht, nicht aber auch im Verhältnis zu der anderen Partei, welcher der Schriftsatz durch das Gericht übermittelt werde, auch von einem Teil der Instanzgerichte und des Schrifttums vertreten. Diese vom LG und auch im Übrigen häufig auf eine entsprechende Formulierung des AG Hamburg in einem Urteil vom 25.2.2022 (48 C 304/21) gestützte Ansicht ist für den Fall der elektronischen Weiterleitung qualifiziert elektronisch signierter elektronischer Schriftsätze durch das Gericht unter Aufrechterhaltung der qualifizierten elektronischen Signatur jedoch nicht zutreffend; eine solche Fallkonstellation war auch in dem der Entscheidung des AG Hamburg zugrundeliegenden Sachverhalt nicht gegeben.
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Die Beklagte ist neben einem bereits rechtskräftig zur Räumung und Herausgabe verurteilten Mitmieter Mieterin einer Wohnung der Klägerin in Bonn. Für den Zeitraum von Januar 2019 bis Juli 2020 wurde die mtl. Kaltmiete von jeweils rd. 380 € nicht bezahlt, so dass ein Mietrückstand in Höhe eines Betrages von insgesamt rd. 7.160 € besteht.
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Mit der vom LG gegebenen Begründung kann die Nichtigkeit der in der Einspruchsschrift vom 5.9.2022 enthaltenen Kündigungserklärung wegen Formunwirksamkeit gem. § 125 Satz 1 BGB nicht angenommen werden. Die Annahme des LG, die Legitimationswirkung einer qualifizierten elektronischen Signatur bestehe nur gegenüber dem Gericht, so dass ein qualifiziert elektronisch signierter elektronischer Schriftsatz nicht formwahrend vom Gericht elektronisch an den Kündigungsempfänger bzw. dessen Prozessbevollmächtigten weitergeleitet werden könne, ist rechtsfehlerhaft.
Die Beurteilung des vorliegenden Falles richtet sich nach der vor dem Inkrafttreten des § 130e ZPO am 17.7.2024 geltenden Rechtslage. Das LG ist hierbei zunächst jedenfalls im Ergebnis zu Recht davon ausgegangen, dass die gem. § 568 Abs. 1 BGB für die Kündigung eines Wohnraummietverhältnisses erforderliche Schriftform, welche nach § 126 Abs. 1 BGB eine Unterzeichnung der Urkunde mittels eigenhändiger Namensunterschrift oder mittels notariell beglaubigten Handzeichens voraussetzt, gem. § 126 Abs. 3 BGB in dem hier vorliegenden Fall der Kündigungserklärung in einem zivilprozessualen Schriftsatz, der an den anwaltlichen Bevollmächtigten des Kündigungsempfängers elektronisch weitergeleitet wird, durch die elektronische Form i.S.v. § 126a Abs. 1 BGB ersetzt werden kann.
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