Zum im Straßenverkehr geltenden Vertrauensgrundsatz
OLG Saarbrücken v. 26.5.2023, 3 U 4/23
Der Sachverhalt:
Die zum Unfallzeitpunkt 64 Jahre alte Klägerin war gegen 17.40 Uhr bei Dunkelheit als Fußgängerin von ihrer damaligen Wohnung zur Bushaltestelle unterwegs. Beim Versuch, die zweispurige und etwa acht Meter breite Straße zu überqueren, wurde sie von dem aus ihrer Sicht von rechts herannahenden Pkw Opel Corsa der Beklagten erfasst. Diese hatte die Klägerin, die noch ca. einen Meter vom gegenüberliegenden Fahrbahnrand entfernt war, zuvor nicht wahrgenommen.
Die Klägerin, bei der bereits vor dem Unfall infolge eines Hüftleidens ein Grad der Behinderung von 70 % mit dem Merkzeichen G vorlag, trug durch das Unfallereignis lebensgefährliche Verletzungen davon, aufgrund deren sie rollstuhlabhängig in einem Pflegeheim untergebracht werden musste. Die Haftpflichtversicherung der Beklagten erkannte vorgerichtlich ihre Einstandspflicht nach Maßgabe einer Haftungsquote von 1/3 an. Die Klägerin hielt hingegen eine Haftungsquote von 70 % für richtig. Sie war der Ansicht, die Beklagte habe in Anbetracht der guten Ausleuchtung und des geraden Verlaufs der im Bereich der Unfallstelle ihre Sorgfaltspflichten in groben Maße verletzt. Sie hätte den Unfall durch Abbremsen ihres Fahrzeugs oder durch eine Ausweichbewegung nach links unschwer vermeiden können.
Die Beklagte hat behauptet, die Klägerin sei zunächst auf der Fahrbahnmitte stehen geblieben und habe gewartet, sie sei dann aber weitergegangen, obwohl das herannahende Beklagtenfahrzeug für sie erkennbar gewesen sei. Der Unfall sei daher für sie als Fahrerin unvermeidbar gewesen. Die Klägerin hätte zudem die in unmittelbarer Nähe zur Unfallstelle befindliche Fußgängerampel zum Überqueren der stark befahrenen Straße benutzen müssen.
Das LG hat unter Abweisung der weitergehenden Klage die Beklagte dazu verurteilt, über die bisher regulierten Schadensbeträge hinaus 2/3 der vergangenen und zukünftigen immateriellen und materiellen Schäden aus dem Unfallereignis zu ersetzen. Das OLG hat die hiergegen gerichtete Berufung der Beklagten zurückgewiesen.
Die Gründe:
Im Ergebnis hat das LG zu Recht angenommen, dass die Beklagte ein überwiegendes Verschulden an dem Unfall trifft.
Zwar hat das LG ein unfallursächliches Verschulden der Klägerin darin erblickt, dass diese versucht habe, die Straße noch vor dem herannahenden Beklagtenfahrzeug zu überqueren, obwohl sie habe erkennen können und müssen, dass dies nicht gefahrlos möglich sein würde. Damit war der Verursachungsanteil der Klägerin allerdings nicht vollständig erfasst. Denn der Klägerin war zudem anzulasten, dass sie die Straße nicht an der Fußgängerampel überquert hatte. Gem. § 25 Abs. 3 Satz 2 StVO müssen Fußgänger bei der Überquerung von Fahrbahnen ampelgeregelte Fußgängerüberwege an Kreuzungen benutzen, wenn die Verkehrsdichte, Fahrgeschwindigkeit, Sichtverhältnisse oder der Verkehrsablauf dies erfordern. Diese Voraussetzung war hier angesichts der Verkehrsdichte erfüllt. Im Rahmen der Verpflichtung nach § 25 Abs. 3 StVO sind auch Umwege in Kauf zu nehmen und eine zusätzliche Wegstrecke von etwa 50 Metern - wie hier in der konkreten Situation - ist ohne weiteres zumutbar war. Daran änderte auch nichts, dass die Klägerin in diesem Fall zusätzlich zwei Seitenstraßen hätte überqueren müssen, was bei dem von ihr gewählten Weg nicht erforderlich war.
Zutreffend hat das LG den für die Haftung der Beklagten maßgebenden Verursachungsbeitrag in einem Reaktionsverschulden gesehen (§ 1 Abs. 2 StVO). Denn die Beklagte hatte nicht auf die die Fahrbahn überquerende Klägerin reagiert, obwohl diese für sie erkennbar war und sie den Unfall bei rechtzeitiger Reaktion hätte vermeiden können. Entgegen der Auffassung der Beklagten war es auch nicht erforderlich, eine weitere Ergänzungsbegutachtung anzuordnen und dem Sachverständigen aufzugeben, Versuche zur Sichtbarkeit bzw. Erkennbarkeit der Klägerin bei den zur Unfallzeit herrschenden Lichtverhältnissen durchzuführen. Die Einholung eines Sachverständigengutachtens setzt konkrete Anknüpfungstatsachen voraus, auf denen die Begutachtung aufbauen kann. Daran fehlte es hier, soweit es um etwaige sehphysiologische Beeinträchtigungen der Beklagten durch äußere (Licht-) Reize ging. Die Beklagte durfte nicht darauf vertrauen, dass die Klägerin sich bei der Fahrbahnüberquerung verkehrsgerecht verhalten werde.
Der im Straßenverkehr geltende Vertrauensgrundsatz besagt, dass ein Verkehrsteilnehmer, der sich verkehrsgemäß verhält, damit rechnen kann, dass ein anderer Verkehrsteilnehmer den Verkehr nicht durch pflichtwidriges Verhalten gefährdet, solange die sichtbare Verkehrslage zu keiner anderen Beurteilung Anlass gibt. Die hieraus für Unfälle beim Überqueren der Fahrbahn durch Fußgänger in der höchstrichterlichen Rechtsprechung entwickelten Grundsätze hat der BGH zuletzt in seiner Entscheidung vom 4.4.2023 (VI ZR 11/21) dahingehend zusammengefasst, dass der Kraftfahrer grundsätzlich auch bei breiteren Straßen verpflichtet ist, die gesamte Straßenfläche vor sich zu beobachten.
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Die zum Unfallzeitpunkt 64 Jahre alte Klägerin war gegen 17.40 Uhr bei Dunkelheit als Fußgängerin von ihrer damaligen Wohnung zur Bushaltestelle unterwegs. Beim Versuch, die zweispurige und etwa acht Meter breite Straße zu überqueren, wurde sie von dem aus ihrer Sicht von rechts herannahenden Pkw Opel Corsa der Beklagten erfasst. Diese hatte die Klägerin, die noch ca. einen Meter vom gegenüberliegenden Fahrbahnrand entfernt war, zuvor nicht wahrgenommen.
Die Klägerin, bei der bereits vor dem Unfall infolge eines Hüftleidens ein Grad der Behinderung von 70 % mit dem Merkzeichen G vorlag, trug durch das Unfallereignis lebensgefährliche Verletzungen davon, aufgrund deren sie rollstuhlabhängig in einem Pflegeheim untergebracht werden musste. Die Haftpflichtversicherung der Beklagten erkannte vorgerichtlich ihre Einstandspflicht nach Maßgabe einer Haftungsquote von 1/3 an. Die Klägerin hielt hingegen eine Haftungsquote von 70 % für richtig. Sie war der Ansicht, die Beklagte habe in Anbetracht der guten Ausleuchtung und des geraden Verlaufs der im Bereich der Unfallstelle ihre Sorgfaltspflichten in groben Maße verletzt. Sie hätte den Unfall durch Abbremsen ihres Fahrzeugs oder durch eine Ausweichbewegung nach links unschwer vermeiden können.
Die Beklagte hat behauptet, die Klägerin sei zunächst auf der Fahrbahnmitte stehen geblieben und habe gewartet, sie sei dann aber weitergegangen, obwohl das herannahende Beklagtenfahrzeug für sie erkennbar gewesen sei. Der Unfall sei daher für sie als Fahrerin unvermeidbar gewesen. Die Klägerin hätte zudem die in unmittelbarer Nähe zur Unfallstelle befindliche Fußgängerampel zum Überqueren der stark befahrenen Straße benutzen müssen.
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Zutreffend hat das LG den für die Haftung der Beklagten maßgebenden Verursachungsbeitrag in einem Reaktionsverschulden gesehen (§ 1 Abs. 2 StVO). Denn die Beklagte hatte nicht auf die die Fahrbahn überquerende Klägerin reagiert, obwohl diese für sie erkennbar war und sie den Unfall bei rechtzeitiger Reaktion hätte vermeiden können. Entgegen der Auffassung der Beklagten war es auch nicht erforderlich, eine weitere Ergänzungsbegutachtung anzuordnen und dem Sachverständigen aufzugeben, Versuche zur Sichtbarkeit bzw. Erkennbarkeit der Klägerin bei den zur Unfallzeit herrschenden Lichtverhältnissen durchzuführen. Die Einholung eines Sachverständigengutachtens setzt konkrete Anknüpfungstatsachen voraus, auf denen die Begutachtung aufbauen kann. Daran fehlte es hier, soweit es um etwaige sehphysiologische Beeinträchtigungen der Beklagten durch äußere (Licht-) Reize ging. Die Beklagte durfte nicht darauf vertrauen, dass die Klägerin sich bei der Fahrbahnüberquerung verkehrsgerecht verhalten werde.
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