Zur Bemessung der Höhe einer Hinterbliebenenentschädigung
BGH v. 6.12.2022 - VI ZR 73/21Im Dezember 2018 war der 81-jährige Vater der Klägerin bei einem Verkehrsunfall getötet worden. Der Fahrer des bei der Beklagten versicherten Pkw hatte bei der Ausfahrt von einem Parkplatz den vorfahrtsberechtigten Pkw des Vaters der Klägerin übersehen. Dieser verstarb noch am Unfallort. Der Unfallgegner wurde mit rechtskräftigem Strafbefehl wegen fahrlässiger Tötung mit Strafvorbehalt verwarnt.
Zwischen der Klägerin und ihrem Vater bestand eine enge emotionale Verbundenheit. Die Klägerin verfügte über sämtliche Vollmachten ihres Vaters, außerdem war sie die erste Ansprechpartnerin, wenn es für ihren Vater "etwas zu regeln" gab. Bis zur mündlichen Verhandlung in der Berufungsinstanz litt die Klägerin unter Schlafstörungen, die zumindest auch auf den plötzlichen Unfalltod ihres Vaters zurückzuführen waren.
Vorgerichtlich zahlte die Beklagte der Klägerin ein Hinterbliebenengeld von 3.000 €. Die Klage verlangte gerichtlich ein Hinterbliebenengeld von mind. 7.000 €. Das LG hat die Beklagte unter Klageabweisung im Übrigen zur Zahlung von 3.500 € verurteilt. Auf die Berufung der Klägerin hat das OLG das Urteil abgeändert und die Beklagte zur Zahlung von weiteren 3.500 € verurteilt. Auf die Revision der Beklagten hat der BGH das Berufungsurteil aufgehoben und die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das OLG zurückverwiesen.
Gründe:
Es ist nicht ausgeschlossen, dass sich rechtsfehlerhafte Erwägungen des Berufungsgerichts zur Bemessungsgrundlage auf die Höhe der zuerkannten Hinterbliebenenentschädigung ausgewirkt haben.
Die Bemessung der Höhe der Hinterbliebenenentschädigung ist zwar grundsätzlich Sache des nach § 287 ZPO besonders frei gestellten Tatrichters. Er hat die konkrete seelische Beeinträchtigung des betroffenen Hinterbliebenen zu bewerten und hierbei die Besonderheiten des jeweiligen Einzelfalles zu berücksichtigen. Ähnlich wie beim Schmerzensgeld sind dabei sowohl der Ausgleichs- als auch der Genugtuungsgedanke in den Blick zu nehmen. Maßgebend für die Höhe der Hinterbliebenenentschädigung sind im Wesentlichen die Intensität und Dauer des erlittenen seelischen Leids und der Grad des Verschuldens des Schädigers. Dabei lassen sich aus der Art des Näheverhältnisses, der Bedeutung des Verstorbenen für den Anspruchsteller und der Qualität der tatsächlich gelebten Beziehung indizielle Rückschlüsse auf die Intensität des seelischen Leids ableiten.
Der in dem Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und SPD genannt Betrag i.H.v. 10.000 € (BT-Drucks. 18/11397, S. 11) bietet eine Orientierungshilfe für die Bemessung der Hinterbliebenenentschädigung, von der im Einzelfall sowohl nach unten als auch nach oben abgewichen werden kann. Er stellt jedoch keine Obergrenze dar. Die Einführung eines Anspruchs auf Hinterbliebenengeld diente dem Zweck, den Hinterbliebenen für immaterielle Beeinträchtigungen unterhalb der Schwelle einer Gesundheitsverletzung einen Anspruch auf angemessene Entschädigung in Geld einzuräumen. Der dem Hinterbliebenen im Einzelfall zuerkannte Betrag muss deshalb im Regelfall hinter demjenigen zurückbleiben, der ihm zustände, wenn das von ihm erlittene seelische Leid die Qualität einer Gesundheitsverletzung hätte.
Die Revision wendet sich insofern mit Erfolg gegen die Annahme des Berufungsgerichts, die Bemessung der Höhe der Hinterbliebenenentschädigung könne unabhängig von der Höhe des Schmerzensgeldes erfolgen, das dem Hinterbliebenen zustände, wenn das von ihm erlittene seelische Leid die Qualität einer Gesundheitsverletzung hätte; die Hinterbliebenenentschädigung sei im Ausgangspunkt insbesondere nicht niedriger als das Schmerzensgeld zu bemessen. Wie dieses Abstandsgebot im Einzelfall gewahrt wird, unterliegt der tatrichterlichen Beurteilung. Rechtsfehlerhaft hat das OLG angenommen, das Hinterbliebenengeld müsse sich der Höhe nach in das Gesamtgefüge der europäischen Rechtsprechung zum Schmerzens- und Hinterbliebenengeld einfügen.
Die Frage, welcher Betrag "angemessen" ist, um das dem Hinterbliebenen zugefügte seelische Leid gem. § 844 Abs. 3 BGB, § 10 Abs. 3 StVG in Geld zu entschädigen, kann - wie bei der Bemessung des einem Geschädigten gem. § 253 Abs. 2 BGB zustehenden Schmerzensgelds - nur in Ansehung der in Deutschland geltenden Lebensverhältnisse und der deutschen Gesamtrechtsordnung beantwortet werden. Abgesehen von den unterschiedlichen Lebensverhältnissen ist der Ersatz materieller und immaterieller Schäden in den europäischen Staaten rechtlich unterschiedlich ausgestaltet. Ein Vergleich mit dem Recht anderer Länder ist wenig aussagekräftig, wenn er nicht die gesamte Rechtsordnung in den Blick nimmt, sondern sich auf die punktuelle Herausnahme und isolierte Betrachtung einzelner Schadenspositionen und Einzelaspekte der verschiedenen Regulierungssysteme beschränkt.
Rechtsprechung
Schmerzensgeld für sog. Schockschaden des Vaters nach Unfalltod eines 11-jährigen Kindes
OLG Celle vom 24.08.2022 - 14 U 22/22
MDR 2022, 1408
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