Zur Verfahrensfähigkeit eines mindestens 14 Jahre alten Minderjährigen im Verfahren wegen Kindeswohlgefährdung nach § 1666 BGB
BGH v. 12.5.2021 - XII ZB 34/21
Der Sachverhalt:
Die 16 Jahre alte Antragstellerin begehrt Verfahrenskostenhilfe für ein Verfahren wegen Kindeswohlgefährdung, das auf ihre Anregung eingeleitet worden ist. Die im August 2004 geborene Antragstellerin war bis Anfang November 2020 auf Veranlassung des Jugendamts und mit Zustimmung ihrer allein sorgeberechtigten Mutter (Beteiligte zu 1) in einer Jugendwohngruppe untergebracht. Nach Beendigung dieser Maßnahme am 3.11.2020 zog sie zu ihrem volljährigen Freund und wurde am 5.11.2020 vom Jugendamt kurzzeitig in Obhut genommen.
Mit Schriftsatz vom selben Tag hat beim Amtsgericht ein Rechtsanwalt die Vertretung der Antragstellerin angezeigt und eine von ihr unterschriebene Vollmacht "wegen Widerspruch gegen Inobhutnahme vom 05.11.2020" vorgelegt. Unter der Überschrift "(Eil-)Antrag auf Regelung der elterlichen Sorge" hat er folgenden Antrag gestellt: "In Bezug auf die elterliche Sorge besteht kein Grund zu weiterer Veranlassung, so dass das Jugendamt alle weiteren Maßnahmen (Inobhutnahme etc.) zu unterlassen hat." Zudem hat er die Gewährung von Verfahrenskostenhilfe für die Antragstellerin und seine Beiordnung beantragt. Die Beteiligte zu 1) hat die Zustimmung zur Beauftragung des Verfahrensbevollmächtigten verweigert.
Das AG leitete ein Verfahren nach § 1666 BGB ein, lehnte die Gewährung von Verfahrenskostenhilfe ab und bestellte eine Rechtsanwältin zum Verfahrensbeistand für die Antragstellerin. Die gegen die Versagung von Verfahrenskostenhilfe gerichtete sofortige Beschwerde der Antragstellerin wies das OLG zurück. Die Rechtsbeschwerde der Antragstellerin hatte vor dem BGH keinen Erfolg.
Die Gründe:
Die Antragstellerin ist für das vom AG eingeleitete Verfahren nach § 1666 BGB nicht gem. § 9 Abs. 1 Nr. 3 FamFG verfahrensfähig. Sie kann daher nur durch ihre Mutter als ihre gesetzliche Vertreterin, nicht aber - wie erfolgt - selbst den für die Gewährung von Verfahrenskostenhilfe gem. § 76 Abs. 1 FamFG, § 117 ZPO erforderlichen Antrag stellen, so dass ihr Verfahrenskostenhilfe mangels wirksamen Antrags nicht bewilligt werden kann.
In Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit entspricht die Verfahrensfähigkeit grundsätzlich der Geschäftsfähigkeit nach dem bürgerlichen Recht (§ 9 Abs. 1 Nr. 1 und 2, Abs. 2 FamFG). Von gesetzlichen Sonderbestimmungen wie etwa §§ 167 Abs. 3, 275, 316 FamFG abgesehen (vgl. § 9 Abs. 1 Nr. 4 FamFG) gesteht § 9 Abs. 1 Nr. 3 FamFG ausnahmsweise auch den nach bürgerlichem Recht beschränkt Geschäftsfähigen die Verfahrensfähigkeit zu, soweit sie das 14. Lebensjahr vollendet haben und sie in einem Verfahren, das ihre Person betrifft, ein ihnen nach bürgerlichem Recht zustehendes Recht geltend machen. Der Begriff der Verfahrensfähigkeit ist mithin enger als derjenige der gem. § 8 Nr. 1 FamFG allen natürlichen Personen zukommenden Beteiligtenfähigkeit; verfahrensfähig kann andererseits nur sein, wer auch beteiligtenfähig ist.
Folge der einem mindestens 14 Jahre alten Minderjährigen als beschränkt Geschäftsfähigem zuerkannten Verfahrensfähigkeit ist, dass dieser selbst einen Rechtsanwalt beauftragen und insoweit auch Verfahrenskostenhilfe in Anspruch nehmen kann. Denn nur dann ist dem Minderjährigen eine sachgerechte Wahrnehmung der verfahrensrechtlichen Kompetenz, die ihm mit Einräumung der Verfahrensfähigkeit eröffnet ist, möglich. Ob § 9 Abs. 1 Nr. 3 FamFG dem mindestens 14 Jahre alten Minderjährigen für ein familiengerichtliches Verfahren nach § 1666 BGB die Verfahrensfähigkeit zubilligt, wird in Rechtsprechung und Literatur unterschiedlich beurteilt. Teilweise wird der Anwendungsbereich des § 9 Abs. 1 Nr. 3 FamFG weit ausgelegt und dahin verstanden, dass alle Kindschaftssachen i.S.d. § 151 FamFG und zudem auch Abstammungs- und Adoptionssachen erfasst sein sollen. Andere vertreten die Ansicht, jedenfalls wenn das Recht des Kindes auf gewaltfreie Erziehung nach § 1631 Abs. 2 BGB den Ausgangspunkt für ein Verfahren gem. § 1666 BGB bilde, sei der Minderjährige verfahrensfähig.
Die wohl überwiegende Auffassung geht hingegen dahin, dass der Anwendungsbereich des § 9 Abs. 1 Nr. 3 FamFG seinem Wortlaut gemäß auf diejenigen die Person des mindestens 14 Jahre alten Minderjährigen betreffenden Verfahren beschränkt ist, in denen dieser ein ihm nach bürgerlichem Recht zustehendes Recht geltend macht. Genannt werden insoweit etwa das Widerspruchsrecht nach § 1671 Abs. 2 Nr. 1 BGB, die Einwilligung zur Annahme als Kind gem. § 1746 Abs. 1 BGB, das Umgangsrecht nach § 1684 Abs. 1 BGB und § 1685 Abs. 1 BGB sowie das Widerspruchsrecht bei der Auswahl des Vormunds gem. § 1778 Abs. 1 Nr. 5 BGB oder das Antragsrecht im Rahmen des Austauschs eines Vormunds nach § 1887 Abs. 2 Satz 2 BGB. Verfahren nach § 1666 BGB unterfielen hingegen nicht § 9 Abs. 1 Nr. 3 FamFG, weil sie kein dem Minderjährigen zustehendes konkretes subjektives Recht beträfen. Die zuletzt genannte Auffassung ist zutreffend.
§ 1666 BGB beinhaltet keinen bürgerlich-rechtlichen Anspruch des Kindes, sondern eine im Rahmen des dem Staat durch Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG auferlegten Wächteramts bestehende Eingriffsbefugnis, mit der die verfassungsrechtliche Position des Kindes und sein aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG folgendes Recht auf Pflege und Erziehung durch seine Eltern geschützt werden soll. Ein "einklagbares" Recht des Kindes darauf, dass das Familiengericht Maßnahmen nach § 1666 BGB trifft, besteht nicht. Vielmehr folgt der Anspruch des Kindes auf ein Eingreifen des Staates zu seinem Schutz aus Art. 2 Abs. 1 und 2 Satz 1 i.V.m. Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG. Dabei handelt es sich aber um kein dem Minderjährigen nach bürgerlichem Recht zustehendes Recht i.S.d. § 9 Abs. 1 Nr. 3 FamFG, wie die Auslegung dieser Norm ergibt. Hierfür spricht bereits der Wortlaut des § 9 Abs. 1 Nr. 3 FamFG, dieses Auslegungsergebnis steht auch im Einklang mit dem durch die Gesetzesmaterialien belegten Sinn und Zweck der Vorschrift und dem entspricht auch die gesetzessystematische Stellung der Norm. Ein anderes, weiter gefasstes Gesetzesverständnis ist schließlich auch nicht mit Blick auf die Rechtsposition des mindestens 14 Jahre alten Minderjährigen geboten.
Nach alldem fehlt es der Antragstellerin hier an der Verfahrensfähigkeit, weil sie in dem Verfahren kein ihr nach bürgerlichem Recht zustehendes Recht im vorgenannten Sinne geltend macht. Mangels Verfahrensfähigkeit der Antragstellerin liegt kein wirksamer Antrag auf Gewährung von Verfahrenskostenhilfe i.S.v. § 76 Abs. 1 FamFG, § 117 ZPO vor, so dass das Amtsgericht deren Gewährung zu Recht abgelehnt hat. Denn bei der Antragstellung handelt es sich um ein zwingendes Erfordernis zur Einleitung eines Verfahrenskostenhilfeverfahrens und mithin um einen Verfahrensantrag i.S.d. § 23 FamFG, für dessen Wirksamkeit die allgemeinen Verfahrenshandlungsvoraussetzungen gegeben sein müssen. Zu diesen zählt die Verfahrensfähigkeit des Antragstellers.
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Die 16 Jahre alte Antragstellerin begehrt Verfahrenskostenhilfe für ein Verfahren wegen Kindeswohlgefährdung, das auf ihre Anregung eingeleitet worden ist. Die im August 2004 geborene Antragstellerin war bis Anfang November 2020 auf Veranlassung des Jugendamts und mit Zustimmung ihrer allein sorgeberechtigten Mutter (Beteiligte zu 1) in einer Jugendwohngruppe untergebracht. Nach Beendigung dieser Maßnahme am 3.11.2020 zog sie zu ihrem volljährigen Freund und wurde am 5.11.2020 vom Jugendamt kurzzeitig in Obhut genommen.
Mit Schriftsatz vom selben Tag hat beim Amtsgericht ein Rechtsanwalt die Vertretung der Antragstellerin angezeigt und eine von ihr unterschriebene Vollmacht "wegen Widerspruch gegen Inobhutnahme vom 05.11.2020" vorgelegt. Unter der Überschrift "(Eil-)Antrag auf Regelung der elterlichen Sorge" hat er folgenden Antrag gestellt: "In Bezug auf die elterliche Sorge besteht kein Grund zu weiterer Veranlassung, so dass das Jugendamt alle weiteren Maßnahmen (Inobhutnahme etc.) zu unterlassen hat." Zudem hat er die Gewährung von Verfahrenskostenhilfe für die Antragstellerin und seine Beiordnung beantragt. Die Beteiligte zu 1) hat die Zustimmung zur Beauftragung des Verfahrensbevollmächtigten verweigert.
Das AG leitete ein Verfahren nach § 1666 BGB ein, lehnte die Gewährung von Verfahrenskostenhilfe ab und bestellte eine Rechtsanwältin zum Verfahrensbeistand für die Antragstellerin. Die gegen die Versagung von Verfahrenskostenhilfe gerichtete sofortige Beschwerde der Antragstellerin wies das OLG zurück. Die Rechtsbeschwerde der Antragstellerin hatte vor dem BGH keinen Erfolg.
Die Gründe:
Die Antragstellerin ist für das vom AG eingeleitete Verfahren nach § 1666 BGB nicht gem. § 9 Abs. 1 Nr. 3 FamFG verfahrensfähig. Sie kann daher nur durch ihre Mutter als ihre gesetzliche Vertreterin, nicht aber - wie erfolgt - selbst den für die Gewährung von Verfahrenskostenhilfe gem. § 76 Abs. 1 FamFG, § 117 ZPO erforderlichen Antrag stellen, so dass ihr Verfahrenskostenhilfe mangels wirksamen Antrags nicht bewilligt werden kann.
In Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit entspricht die Verfahrensfähigkeit grundsätzlich der Geschäftsfähigkeit nach dem bürgerlichen Recht (§ 9 Abs. 1 Nr. 1 und 2, Abs. 2 FamFG). Von gesetzlichen Sonderbestimmungen wie etwa §§ 167 Abs. 3, 275, 316 FamFG abgesehen (vgl. § 9 Abs. 1 Nr. 4 FamFG) gesteht § 9 Abs. 1 Nr. 3 FamFG ausnahmsweise auch den nach bürgerlichem Recht beschränkt Geschäftsfähigen die Verfahrensfähigkeit zu, soweit sie das 14. Lebensjahr vollendet haben und sie in einem Verfahren, das ihre Person betrifft, ein ihnen nach bürgerlichem Recht zustehendes Recht geltend machen. Der Begriff der Verfahrensfähigkeit ist mithin enger als derjenige der gem. § 8 Nr. 1 FamFG allen natürlichen Personen zukommenden Beteiligtenfähigkeit; verfahrensfähig kann andererseits nur sein, wer auch beteiligtenfähig ist.
Folge der einem mindestens 14 Jahre alten Minderjährigen als beschränkt Geschäftsfähigem zuerkannten Verfahrensfähigkeit ist, dass dieser selbst einen Rechtsanwalt beauftragen und insoweit auch Verfahrenskostenhilfe in Anspruch nehmen kann. Denn nur dann ist dem Minderjährigen eine sachgerechte Wahrnehmung der verfahrensrechtlichen Kompetenz, die ihm mit Einräumung der Verfahrensfähigkeit eröffnet ist, möglich. Ob § 9 Abs. 1 Nr. 3 FamFG dem mindestens 14 Jahre alten Minderjährigen für ein familiengerichtliches Verfahren nach § 1666 BGB die Verfahrensfähigkeit zubilligt, wird in Rechtsprechung und Literatur unterschiedlich beurteilt. Teilweise wird der Anwendungsbereich des § 9 Abs. 1 Nr. 3 FamFG weit ausgelegt und dahin verstanden, dass alle Kindschaftssachen i.S.d. § 151 FamFG und zudem auch Abstammungs- und Adoptionssachen erfasst sein sollen. Andere vertreten die Ansicht, jedenfalls wenn das Recht des Kindes auf gewaltfreie Erziehung nach § 1631 Abs. 2 BGB den Ausgangspunkt für ein Verfahren gem. § 1666 BGB bilde, sei der Minderjährige verfahrensfähig.
Die wohl überwiegende Auffassung geht hingegen dahin, dass der Anwendungsbereich des § 9 Abs. 1 Nr. 3 FamFG seinem Wortlaut gemäß auf diejenigen die Person des mindestens 14 Jahre alten Minderjährigen betreffenden Verfahren beschränkt ist, in denen dieser ein ihm nach bürgerlichem Recht zustehendes Recht geltend macht. Genannt werden insoweit etwa das Widerspruchsrecht nach § 1671 Abs. 2 Nr. 1 BGB, die Einwilligung zur Annahme als Kind gem. § 1746 Abs. 1 BGB, das Umgangsrecht nach § 1684 Abs. 1 BGB und § 1685 Abs. 1 BGB sowie das Widerspruchsrecht bei der Auswahl des Vormunds gem. § 1778 Abs. 1 Nr. 5 BGB oder das Antragsrecht im Rahmen des Austauschs eines Vormunds nach § 1887 Abs. 2 Satz 2 BGB. Verfahren nach § 1666 BGB unterfielen hingegen nicht § 9 Abs. 1 Nr. 3 FamFG, weil sie kein dem Minderjährigen zustehendes konkretes subjektives Recht beträfen. Die zuletzt genannte Auffassung ist zutreffend.
§ 1666 BGB beinhaltet keinen bürgerlich-rechtlichen Anspruch des Kindes, sondern eine im Rahmen des dem Staat durch Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG auferlegten Wächteramts bestehende Eingriffsbefugnis, mit der die verfassungsrechtliche Position des Kindes und sein aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG folgendes Recht auf Pflege und Erziehung durch seine Eltern geschützt werden soll. Ein "einklagbares" Recht des Kindes darauf, dass das Familiengericht Maßnahmen nach § 1666 BGB trifft, besteht nicht. Vielmehr folgt der Anspruch des Kindes auf ein Eingreifen des Staates zu seinem Schutz aus Art. 2 Abs. 1 und 2 Satz 1 i.V.m. Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG. Dabei handelt es sich aber um kein dem Minderjährigen nach bürgerlichem Recht zustehendes Recht i.S.d. § 9 Abs. 1 Nr. 3 FamFG, wie die Auslegung dieser Norm ergibt. Hierfür spricht bereits der Wortlaut des § 9 Abs. 1 Nr. 3 FamFG, dieses Auslegungsergebnis steht auch im Einklang mit dem durch die Gesetzesmaterialien belegten Sinn und Zweck der Vorschrift und dem entspricht auch die gesetzessystematische Stellung der Norm. Ein anderes, weiter gefasstes Gesetzesverständnis ist schließlich auch nicht mit Blick auf die Rechtsposition des mindestens 14 Jahre alten Minderjährigen geboten.
Nach alldem fehlt es der Antragstellerin hier an der Verfahrensfähigkeit, weil sie in dem Verfahren kein ihr nach bürgerlichem Recht zustehendes Recht im vorgenannten Sinne geltend macht. Mangels Verfahrensfähigkeit der Antragstellerin liegt kein wirksamer Antrag auf Gewährung von Verfahrenskostenhilfe i.S.v. § 76 Abs. 1 FamFG, § 117 ZPO vor, so dass das Amtsgericht deren Gewährung zu Recht abgelehnt hat. Denn bei der Antragstellung handelt es sich um ein zwingendes Erfordernis zur Einleitung eines Verfahrenskostenhilfeverfahrens und mithin um einen Verfahrensantrag i.S.d. § 23 FamFG, für dessen Wirksamkeit die allgemeinen Verfahrenshandlungsvoraussetzungen gegeben sein müssen. Zu diesen zählt die Verfahrensfähigkeit des Antragstellers.