10.10.2022

Zur Vermutung eines immateriellen Nachteils wegen eines überlangen Verfahrens

Die Vermutung eines immateriellen Nachteils wegen eines überlangen Verfahrens (§ 198 Abs. 2 S. 1 GVG), in dem es nur noch um die Verteilung oder Festsetzung der Kosten geht, wird widerlegt, wenn das streitgegenständliche Ausgangsverfahren für den Kläger eine äußerst geringe Bedeutung hatte, die es ausschließt, dass ein Nachteil in Gestalt einer seelischen Beeinträchtigung entstanden sein kann (Anschluss und Weiterführung von OLG Hamm, Urteil vom 10.8.2016 - I-11 EK 5/15).

OLG Rostock v. 21.9.2022 - 23 EK 1/22
Der Sachverhalt:
Der Kläger war im Jahr 2016 für einen damals in der JVA inhaftierten Strafgefangenen als Rechtsanwalt tätig und hatte in dieser Funktion bei der JVA beantragt, Einsicht in die Gefangenenpersonalakte seines Mandanten zu erhalten. Dies hat die JVA mit Verfügung vom 28.9.2016 ablehnt. Der Kläger beantragte daraufhin gerichtliche Entscheidung nach §§ 109ff. Strafvollzugsgesetz Bund in dem Strafvollzugsverfahren seines oben genannten Mandanten, wobei sich der Kläger im Rubrum der Antragsschrift vom 18.10.2016 persönlich als Antragsteller bezeichnete.

Mit weiterem Schriftsatz vom 24.1.2017 erklärte der Kläger das Strafvollzugsverfahren in der Hauptsache für erledigt und beantragte, der Staatskasse die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen. Nachdem das LG dazu bis 2020 keine Entscheidung getroffen hatte, rügte der Kläger mit Schriftsätzen vom 5.8.2020 und 5.11.2021 eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung.

Mit Beschluss vom 26.11.2021 tenorierte das LG, dass die Hauptsache erledigt sei und der Antragsteller - der hiesige Kläger - die Kosten des Verfahrens und seine eigenen notwendigen Auslagen zu tragen habe. Der Kläger machte daraufhin einen Anspruch gem. § 198 Abs. 1 S. 1 GVG geltend. Die unangemessene Dauer des Ausgangsverfahrens lasse einen Nachteil für den Kläger gem. § 198 Abs. 2 S. 1 GVG vermuten. Ungeachtet der Gebührenhöhe von 83,54 € sei die Sache für ihn als Strafverteidiger mit Blick auf die Frage eines Akteneinsichtsrechts im Rahmen der Strafvollstreckung von entscheidender und grundsätzlicher Bedeutung gewesen.

Zudem hat der Kläger zum erlittenen Nachteil behauptet, im Rahmen des eigenen Kanzleiablaufs hätten die Akten zur turnusmäßigen Wiedervorlage von seinen Angestellten und ihm selbst herausgesucht und bearbeitet werden müssen. Dazu habe er sich immer wieder mit dem streitgegenständlichen Strafvollzugsverfahren beschäftigen müssen, um zu entscheiden, "was mit der Akte passieren soll, bzw. was gegebenenfalls zu tun wäre, um (...) ein zutreffendes Ergebnis zu erzielen beziehungsweise die Kosten in Rechnung stellen zu können."

Das OLG hat die auf Entschädigung i.H.v. 2.300 € wegen überlanger Verfahrensdauer des Strafvollzugsverfahrens vor dem LG gerichtete Klage abgewiesen.

Die Gründe:
Dem Kläger steht kein Anspruch auf Entschädigung gem. § 198 Abs. 1 S. 1 GVG zu.

Danach wird entschädigt, wer infolge unangemessener Dauer eines Gerichtsverfahrens als Verfahrensbeteiligter einen Nachteil erleidet. Der Kläger hat jedoch keinen solchen Nachteil erlitten. Der Kläger hat durch die aus seiner Sicht unangemessen verzögerte Kostenentscheidung des LG weder einen materiellen noch einen immateriellen Nachteil erlitten.

Für materielle Nachteile, wie etwa verzögerungsbedingte Kostenerhöhungen im Ausgangsverfahren oder angefallene Kreditkosten infolge einer verspäteten Durchsetzung im Ausgangsverfahren verfolgter Ansprüche, ist der Kläger im Entschädigungsverfahren uneingeschränkt darlegungspflichtig. Dieser Darlegungspflicht genügte der Kläger jedoch nicht. Seinem Vorbringen zu turnusmäßigen Wiedervorlagen der klägerseitigen Akten des streitgegenständlichen Strafvollzugsverfahrens im Kanzleibetrieb fehlte es bereits mit Blick auf die Häufigkeit der Wiedervorlagen und den jeweiligen Befassungsaufwand an der nötigen Substanz, um einen sich daraus ergebenden materiellen Nachteil auf Seiten des Klägers darzutun.

Außerdem ist ein ansonsten wirtschaftlich folgenloses Verhalten eines von einem überlangen Gerichtsverfahren Betroffenen, das nicht nennenswert über das bloße Abwarten der sich verzögernden gerichtlichen Verfahrensförderung hinausgeht, regelmäßig nicht geeignet, einen materiellen Nachteil zu begründen. Dies trifft auf die vom Kläger vorgebrachten turnusmäßigen Wiedervorlagen auch ungeachtet der Frage zu, wie oft es zu ihnen kam und welcher - jedenfalls überschaubare - Befassungsaufwand mit ihnen für den Kläger und seine Angestellten verbunden war.

Immaterielle Nachteile hat der Kläger ebenfalls nicht erlitten. Zwar streitet für ihn im Grundsatz die gesetzliche Vermutung gem. § 198 Abs. 2 S. 1 GVG, wonach ein Nachteil, der nicht Vermögensnachteil ist, vermutet wird, wenn ein Gerichtsverfahren unangemessen lange gedauert hat, jedoch steht im hier zu entscheidenden Fall bereits aufgrund des unstreitigen Sachverhalts fest, dass die Vermutung widerlegt ist. Die Vermutung eines immateriellen Nachteils wegen eines überlangen Verfahrens, in dem es nur noch um die Verteilung oder Festsetzung der Kosten geht, wird widerlegt, wenn das streitgegenständliche Ausgangsverfahren für den Kläger eine äußerst geringe Bedeutung hatte, die es ausschließt, dass ein Nachteil in Gestalt einer seelischen Beeinträchtigung entstanden sein kann (vgl. OLG Hamm, Urteil v. 10.8.2016, Az.: I-11 EK 5/15). So liegt der Fall aufgrund der Gesamtschau folgender beiden unstreitigen Tatsachen:

Der Kläger hat sein gerichtliches Begehren bereits vor dem Eintritt der möglicherweise unangemessenen Dauer des Strafvollzugsverfahrens für erledigt erklärt, so dass es aus seiner Sicht fortan nur noch um die Frage ging, wer die Kostenlast des Verfahrens trägt.

Der Gebührenanspruch gegenüber der Staatskasse hätte, sein Bestehen unterstellt, nicht mehr als 83,54 € betragen und hatte daher mit Gewissheit auch aus Sicht des als Rechtsanwalt tätigen Klägers gemäß der vom Senat geteilten, oben zitierten Rechtsprechung des OLG Hamm eine äußerst geringe Bedeutung.

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Aufsatz
Zugang zum Recht - gestern, heute und morgen
Hans-Jürgen Papier, ZKM 2022, 161

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