04.02.2017

Banges Warten

Portrait von Axel Groeger
Axel Groeger

So skizziert ein Artikel in der soeben erschienenen Ausgabe 1/2 2017 der Zeitschrift "Wohlfahrt Intern" die Stimmung bei den DRK-Schwestern. Ob ihnen, die anderen Menschen gerade auch in Krisenregionen und bei Katastrophenfällen beherzt und ohne Furcht helfen, wirklich so bange ist, dass eine Besprechung des Urteils des EuGH vom 17.11.2016 (Rs. C-216/15) durch den Bonner Professor Gregor Thüsing (s. auch ArbRB 2016, 354 [Hildebrand]) zum "letzten Strohhalm" wird, sei dahingestellt. Erste Hilfe wurde ihnen von unerwarteter Stelle, nämlich von ver.di, gleich am Tag darauf angeboten: "Wir helfen gerne dabei, gute tarifliche Regelungen für den Übergang zu finden und die Ansprüche der Betroffenen zu sichern" (https://www.verdi.de/presse/pressemitteilungen). Die oberste Repräsentantin der Betroffenen, die Generaloberin und Präsidentin des Verbandes der Schwesternschaften vom Deutschen Roten Kreuz (DRK), wird in "Wohlfahrt Intern" mit der Aussage zitiert: "Wir wollen kein politischer Kollateralschaden werden". Worum geht es?

DRK-Schwestern keine Arbeitnehmer nach deutschem Recht

Mitgliedsschwestern der DRK-Schwesternschaften sind keine Arbeitnehmer im Sinne des im deutschen Recht verwandten allgemeinen Arbeitnehmerbegriffs. Sie erbringen ihre Arbeitsleistung zwar in persönlicher Abhängigkeit. Rechtsgrundlage für die von ihnen geschuldeten Dienste ist aber kein privatrechtlicher Vertrag, sondern die durch Beitritt zur DRK-Schwesternschaft begründete Mitgliedschaft in einer DRK-Schwesternschaft, und die aufgrund der Vereinsautonomie in der Satzung und Mitgliederordnung verankerte Pflicht, den Vereinsbeitrag in Form der Leistung von Diensten in persönlicher Abhängigkeit zu erbringen. Ein Rechtssatz, wonach bei Diensten in persönlicher Abhängigkeit ausschließlich ein Arbeitsverhältnis begründet wird bzw. werden kann, besteht im deutschen Recht nicht. Mit seiner zuletzt im Vorlagebeschluss vom 17.3.2015 (1 ABR 62/12 (A), ZTR 2015, 400 = ArbRB 2015, 233 [Oetter]) bestätigten Rechtsprechung, dass aufgrund der Vereinsautonomie (Art. 9 Absatz 1 GG) abhängige Dienste auch als Mitgliedschaftsbeitrag erbracht werden können, soweit durch die Arbeitspflichten zwingende arbeitsrechtliche Schutzbestimmungen nicht umgangen werden, hat sich der 1. Senat des BAG klar gegen eine abweichende, insbesondere vom Präsidenten des Landesarbeitsgerichts Niedersachsen und Vorsitzenden Richter am Kirchengerichtshof der Evangelischen Kirche in Deutschland vertretene Ansicht gewandt. Eine Umgehung arbeitsrechtlicher Schutzbestimmungen hat das BAG angesichts der für die Vereinsmitglieder in den Satzungen und Mitgliederordnungen der Schwesternschaften vorgesehenen Leistungen stets verneint.

Entscheidung des BAG am 21.2.2017

Folgt der 1. Senat dem 7. Senat (Beschl. v. 10.7.2013 - 7 ABR 91/11, ArbRB 2013, 332 [Mues], wonach es im Zustimmungsersetzungsverfahren nach § 99 Abs. 4 BetrVG auf die Rechtslage zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung ankommt, wird er am 21. Februar 2017 noch nicht darüber zu entscheiden haben, ob mit in Kraft treten des § 1 Abs. 1 Satz 3 AÜG (n.F.) am 1.4.2017 lediglich ein Ketten-, Zwischen- oder Weiterverleih untersagt und positiv geregelt wird, dass Leiharbeitnehmer nur von ihrem vertraglichen Arbeitgeber verliehen werden dürfen, oder ob der Gesetzgeber damit entgegen dem Beschluss vom 17.3.2015 auch einen Vertragstypenzwang eingeführt hat. Er wird auf der Grundlage des noch bis zum 31.3.2017 geltenden § 1 Abs. 1 Satz 2 AÜG zu entscheiden haben, ob der Betriebsrat der Ruhrlandklinik in Essen die Zustimmung zur Einstellung von Schwestern der DRK Schwesternschaft Essen e.V. aufgrund eines unbefristeten Gestellungsvertrages gem. § 99 Abs. 2 Nr. 1 BetrVG mit der Begründung verweigern durfte, dass die Einstellung nicht nur vorübergehend, sondern dauerhaft erfolgen sollte und damit gegen § 1 Abs. 1 S. 2 AÜG verstößt. Dabei ist er teilweise an die Entscheidung des EuGH vom 17.11.2016 (Rs. C-216/15, ArbRB 2016, 354 [Hildebrand])  gebunden, nämlich soweit der EuGH im Rahmen seiner Kompetenz Art. 1 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2008/104/EG des Europäischen Parlamentes und des Rates vom 19.11.2008 über Leiharbeit (Leiharbeitsrichtlinie) dahin ausgelegt hat, dass die Überlassung eines Vereinsmitglieds an ein entleihendes Unternehmen durch einen Verein, der keinen Erwerbszweck verfolgt, jedoch für die Überlassung ein Gestellungsentgelt erhält, in den Anwendungsbereich der Richtlinie fällt, wenn die Überlassung erfolgt, damit das Mitglied bei dem entleihenden Unternehmen hauptberuflich und unter dessen Leitung gegen eine Vergütung Arbeitsleistungen erbringt, sofern das Mitglied aufgrund dieser Arbeitsleistung in dem Mitgliedsstaat geschützt ist, auch wenn es nach nationalem Recht kein Arbeitnehmer ist, weil es mit dem Verein keinen Arbeitsvertrag geschlossen hat.

Schnelles Denken, langsames Denken

Bange müsste den DRK-Schwestern werden, wenn sie die Zusammenfassung dieser Entscheidung in der online Ausgabe der "Ärzte-Zeitung" vom 18.11.2016 gelesen haben: "Rot-Kreuz-Schwestern gelten als Arbeitnehmerinnen, für die nur eine vorübergehende Überlassung zulässig ist, urteilte der Europäische Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg. Die Rot-Kreuz-Schwesternschaft ist ein Verein ohne Gewinnabsicht; nach deutschem Recht gelten die Schwestern nicht als Arbeitnehmer. Dennoch zählen die üblichen Regeln für Leiharbeit, so der EuGH. Ein "Beschäftigungsverhältnis" mit arbeitnehmerähnlichem Schutz reiche hierfür aus." Wer nach einer weiteren Bestätigung gesucht hat, dass schnelles Denken bisweilen zu verhängnisvollen Fehlentscheidungen führen kann und langsames Denken manchmal ein überlebensnotwendiger Reflex ist (Lesenswert Daniel Kahnemann "Schnelles Denken, langsames Denken"), findet sie darin. Die "Ärzte-Zeitung" gibt so ziemlich alles falsch wieder. Insbesondere hat der EuGH nichts zur Dauer der Überlassung und auch nichts zu den anwendbaren Regeln ausgeführt. Und er hat auch nicht entschieden, dass DRK-Schwestern Arbeitnehmerinnen im Sinne von Art. 1 Abs. 1 der Leiharbeitsrichtlinie sind; jedoch ist der Begriff der Arbeitnehmer im Sinne von Art. 1 Abs. 1 der Leiharbeitsrichtlinie so auszulegen, dass es möglich ist, dass DRK-Schwestern Arbeitnehmerinnen sind. Da der EuGH jedoch nur das Unionsrecht auslegt und die Umsetzung dieses Auslegungsergebnisses im Einzelfall stets Aufgabe der Gerichte der Mitgliedstaaten ist, kommt es auf das weitere Verfahren vor dem 1. Senat an.

Der entscheidende Punkt

Nach der in Art. 267 Abs. 1 AEUV festgelegten Verteilung der Zuständigkeiten, von der die Entscheidung des EuGH ausgeht, wird es Aufgabe des BAG sein, zu prüfen, ob Mitglieder von DRK-Schwesternschaften aufgrund dieser Arbeitsleistung in der Bundesrepublik Deutschland geschützt sind. Es ist dabei nicht an den obiter Dictum und über die Grenzen seiner Zuständigkeit hinaus erfolgten Hinweis des EuGH gebunden, dass es naheliege, dass die Mitglieder der DRK-Schwesternschaft aufgrund der von ihnen erbrachten Arbeitsleistung geschützt seien ("it appears, therefore, that the members of the association are protected in Germany by virtue of the work they carry out, this being, however, a matter for the referring court to determine"). Es ist unerheblich, ob dem EuGH bewusst war, dass über den Schutz von DRK-Schwestern in Deutschland - nicht nur zwischen ver.di und dem DGB auf der einen und dem Verband der Schwesternschaften auf der anderen Seite, sondern auch im arbeitsrechtlichen Schrifttum - unterschiedliche Ansichten bestehen (zum Streitstand siehe Schaub/Linck, Arbeitsrechts-Handbuch, 16. Auflage 2015, § 29 Rz. 12 m.w.N.). Wenn der 1. Senat des BAG, wovon auszugehen ist, an der Beurteilung im Beschluss vom 17.3.2015 (1 ABR 62/12 (A), ZTR 2015, 400 = ArbRB 2015, 233 [Oetter]) festhält, wonach angesichts der in den Satzungen und Mitgliederordnungen für DRK-Schwestern vorgesehenen Leistungen durch die als Mitgliedschaftsbeitrag zu erbringenden Arbeitsleistungen zwingende arbeitsrechtliche Schutzbestimmungen nicht umgangen werden, dann wird ihm ohne großes Nachdenken bewusst werden, dass dieses aus Sicht der DRK-Schwesternschaften wohlmeinende und rechtlich zutreffende Zusammenfassung, die sich insoweit wohltuend von der "Ärzte-Zeitung" abhebt, sich ex post in Kenntnis des obiter dictums des EuGH einen juristischen Kollateralschaden verursachen könnte, der nicht nur die Vereinsautonomie des Art. 9 Abs. 1 GG verletzen, sondern die Existenz der DRK-Schwesternschaften beenden könnte.

Differenzierung zu erwarten

Schnell denkt man mit Blick auf das - einem Sirenenruf gleichende - obiter dictum des EuGH "si tacuisses ...". Der 1. Senat des BAG wird differenzierter über die Entscheidung des EuGH nachdenken und feststellen, dass dem unverbindlichen Hinweis utra vires auf der einen Seite der fast orakelhafte Relativsatz "sofern das Mitglied aufgrund dieser Arbeitsleistung in dem Mitgliedsstaat geschützt ist" gegenübersteht. Er gibt dem BAG Steine statt Brot und ruft geradezu nach einer Konkretisierung: Meinte der EuGH wirklich den (ohne Berücksichtigung der Leiharbeitsrichtlinie) erreichten Schutz im Mitgliedstaat oder die Schutzbedürftigkeit, die in Bestimmungen der Rechtsordnung des Mitgliedstaates hinreichend zum Ausdruck gekommen sein muss? Stellt der EuGH überhaupt auf den Schutz durch die Rechtsordnung des Mitgliedstaates ab und gehören dazu auch völkerrechtliche Verpflichtungen? Sind damit sämtliche zwingenden Normen der allgemeinen Rechtsordnung des Mitgliedstaates (insbes. Gesetze) gemeint oder kann nur auf den durch die Arbeitsrechtsordnung (einschl. Kollektivverträge) gewährleisteten Schutz abgestellt werden 8siehe Art. 9 Abs. 2 der Leiharbeitsrichtlinie)? Kann oder muss ergänzend auch ein durch die Sozialen Sicherungssysteme bewirkter Schutz berücksichtigt werden? Ermöglicht oder gebietet die Leiharbeitsrichtlinie eine Gesamtbeurteilung und damit auch die Berücksichtigung des "nur" durch vereinsautonome Regelungen gewährleisteten Schutzes? Die Ambiguität des zentralen Halbsatzes der Entscheidung des EuGH, den der Autor der "Ärzte-Zeitung" entweder schnell überlesen oder als zu "sperrig" empfunden hat, könnte den Charakter eines "Stolpersteins" haben und die Annahme stützen, dass der EuGH die bewusste Unschärfe nicht als das Ende des Dialogs mit dem BAG, sondern als eine invitatio für dessen Fortsetzung verstanden wissen möchte.

Ist nur die vorübergehende Überlassung zulässig?

Die Zusammenfassung in der "Ärzte-Zeitung" lässt nicht nur diesen Relativsatz unbeachtet, sondern legt in die Entscheidung des EuGH auch etwas hinein, was in ihr nicht enthalten ist, nämlich dass die Leiharbeitsrichtlinie nur eine vorübergehende Überlassung von Arbeitnehmern zulässt. Die Bedeutung dieses Begriffs in Art 1 Absatz 1 der Leiharbeitsrichtlinie war und ist umstritten; der EuGH hat dazu nicht Stellung genommen. Aber dies ist der Kern. Teilweise ist von einem Programmsatz ohne Rechtsfolge die Rede; u.a. die EU Kommission, die 2015 ein Vertragsverletzungsverfahren gegen die Bundesrepublik Deutschland eingestellt hat (CHAP (2015) 00716), vertritt die Ansicht, dass der Anwendungsbereich der Richtlinie auf vorübergehende Überlassungen beschränkt sei. Schließlich wird die Ansicht vertreten, dass die Richtlinie lediglich vorübergehende Überlassungen erlaubt und nicht mehr nur vorübergehende Überlassungen verbietet. Ebenfalls offen ist, ob, wenn man Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie als Verbot dauerhafter Überlassung ansieht, auf die Besetzung von Arbeitsplätzen im Entleiherbetrieb oder auf die Überlassung des einzelnen Leiharbeitnehmers abzustellen ist.

Die bisherige Haltung des BAG

Im nationalen Recht lautet § 1 Abs. 1 Satz 2 AÜG bis zum 31.3.2017: "Die Überlassung von Arbeitnehmern an Entleiher erfolgt vorübergehend." Der 7. Senat des BAG hat darin ein nationales gesetzliches Verbot der nicht nur vorübergehenden Arbeitnehmerüberlassung gesehen (Beschl. v. 10.7.2013 - 7 ABR 91/11, ArbRB 2013, 332 [Mues]; ausführlich Ebert, ArbRB 2013, 276), auch wenn der Wille des Gesetzgebers, nicht nur eine Begriffsdefinition aus der Leiharbeitsrichtlinie zu übernehmen, sondern ein Verbotsgesetz zu erlassen, aus den Gesetzgebungsmaterialien kaum ersichtlich ist. Der Gesetzgeber wollte mit dem Ersten Gesetz zur Änderung des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes - Verhinderung von Missbrauch der Arbeitnehmerüberlassung vom 28.4.2011 (BGBl. I S. 642) erklärtermaßen Vorgaben der Richtlinie 2008/104/EG des Europäischen Parlamentes und des Rates vom 19.11.2008 über Leiharbeit (Leiharbeitsrichtlinie) in deutsches Recht umsetzen. Im Gesetzentwurf der Bundesregierung vom 17.2.2011 (BT Drs. 17/4804, Seite 1) wurde dazu ausgeführt: "Die Umsetzung der Leiharbeitsrichtlinie erfordert Änderungen im Arbeitnehmerüberlassungsgesetz. Die Richtlinie begrenzt den Anwendungsbereich nicht wie im geltenden Recht auf gewerbsmäßige Arbeitnehmerüberlassung, sondern gilt für wirtschaftlich tätige Unternehmen unabhängig davon, ob sie Erwerbszwecke verfolgen oder nicht. Zudem definiert die Leiharbeitsrichtlinie Arbeitnehmerüberlassung als vorübergehend." Dazu wird auf Seite 8 erklärt, dass der Begriff "vorübergehend" im Sinne der Leiharbeitsrichtlinie verstanden werde.

Die Begründung des 7. Senats unterscheidet zwischen dem Inhalt und Regelungsgehalt des § 1 Abs. 1 Satz 2 AÜG und dem Motiv des Gesetzgebers. Das ist dogmatisch und im Ansatz zutreffend, denn nicht alles, was im manchmal schwer durchschaubaren Politzyklus zur Sprache kommt, wird vom Gesetz als dem normativ verfestigten Willen des Gesetzgebers umfasst (Baer, Rechtssoziologie, 2. Auflage 2015, § 6 Rz. 51 ff.). Hier soll es umgekehrt sein: Das Gesetz soll sogar qualitativ mehr umfassen, als der Gesetzgeber selbst gemeint hat. Das Arbeitsministerium, aus dem der Gesetzentwurf stammt, wurde seinerzeit von einer CDU-Ministerin geleitet. Der 7. Senat hat den unionsrechtlichen Bezug nicht grundsätzlich verkannt, er hat sich jedoch damit begnügt, festzustellen, dass weder die Leiharbeitsrichtlinie noch Art. 16 GR Charta der EU einem gesetzlichen Verbot der nicht nur vorübergehenden Arbeitnehmerüberlassung entgegenstünden. Dem Verbotscharakter des § 1 Abs. 1 Satz 2 AÜG liegt das Paradigma des Schutzes der kollektiven Interessen der betroffenen Belegschaft zugrunde. Im Interesse der Stammarbeitnehmer soll eine Spaltung der Belegschaft begrenzt und die Gefahr eingeschränkt werden, dass zumindest faktisch auf deren Arbeitsplatzsicherheit und die Qualität ihrer Arbeitsbedingungen Druck ausgeübt wird. Im Rahmen dieser Begrenzung wird die Organisationsgewalt des Arbeitgebers, die Belegschaft in bestimmter Weise zusammenzusetzen, eingeschränkt.

Der 1. Senat im Dilemma?

Der 1. Senat steht damit nur scheinbar vor einem Dilemma. Er hat schon ganz andere Fragen von großer gesellschaftspolitischer Tragweite überzeugend gelöst. Man denke nur an die Entscheidungen zum Arbeitskampf in kirchlichen Einrichtungen, die ver.di freilich nicht überzeugen konnte. Dem 1. Senat ist zum einen bewusst, dass Fragen der Auslegungsmethoden immer auch Verfassungsfragen sind. Er hat mit seinem Vorlagebeschluss deutlich gemacht, dass das "Modell" der Tätigkeit in persönlicher Abhängigkeit aufgrund des vereinsrechtlichen Mitgliedschaftsverhältnisses durch die grundrechtlich garantierte Vereinsautonomie (Art. 9 Absatz 1 GG) geschützt ist. Er weiß, dass der 7. Senat offen gelassen hat, ob seine Auslegung von § 1 Abs. 1 Satz 2 AÜG als Verbotsgesetz unionsrechtlich vorgegeben ist. Grundsätzlich käme das Gebot der unionsrechtskonformen Auslegung von § 1 Abs. 1 Satz 2 AÜG nur dann in Betracht, wenn die Leiharbeitsrichtlinie ein von den Mitgliedstaaten umzusetzendes Verbot der nicht nur vorübergehenden Arbeitnehmerüberlassung enthielte. Wenn die Richtlinie ein solches Verbot hingegen nicht verlangen sollte, käme die unionsrechtskonforme Auslegung grundsätzlich nicht in Betracht. Wenn eine nationale Rechtsvorschrift unionsrechtskonform auszulegen ist, weil sie in den Geltungsbereich des Unionsrechts fällt, dann kommt es auf die Auslegung des Unionsrechts durch den EuGH an und ist auch zu beachten, dass keine Fallgestaltungen denkbar sind, die vom Unionsrecht erfasst würden, ohne dass die Grundrechte der GR-Charta anwendbar wären. Die Anwendbarkeit des Unionsrechts umfasst immer auch die Anwendbarkeit der durch die Charta garantierten Grundrechte (EuGH vom 26.2.2013 – C-617/10, Rz. 21).

Dass der EuGH das Auslegungsmonopol für die Auslegung des Unionsrechts hat, ist das Eine. Dass eine unionsrechtskonforme Auslegung einer nationalen Rechtsvorschrift außerhalb des Anwendungsbereichs des Unionsrechts nicht ausgeschlossen ist, ist das Andere. Dazu hat der EuGH mehrfach entschieden, dass ein Vorabentscheidungsersuchen zur Auslegung einer nationalen Vorschrift nicht zwingend, aber zulässig ist, wenn die auszulegende nationale Vorschrift nach dem Willen des nationalen Gesetzgebers auf solche Sachverhalte angewendet werden soll, die unter eine Richtlinie fallen und deshalb die innerstaatliche Rechtsvorschrift an das Gemeinschaftsrecht angepasst wurde. In solchen Fällen besteht nach der Rechtsprechung des EuGH ein "klares Interesse" der Union daran, dass die aus dem Unionsrecht in das nationale Recht übernommenen Bestimmungen oder Begriffe einheitlich ausgelegt werden, um künftige Auslegungsunterschiede zu verhindern. Dem 1. Senat ist aber auch die Methode der sog. "gespaltenen Auslegung" bekannt, die zur Anwendung kommt, wenn ein Gesetz, das der Umsetzung einer Richtlinie der EU dient, je nachdem, ob es in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt oder nicht, unterschiedlich ausgelegt wird. Auch weiß er, dass nach übereinstimmender Rechtsprechung des EuGH und des BVerfG die Pflicht zur unionsrechtskonformen Auslegung insbesondere im Grundsatz der Rechtssicherheit ihre Schranken findet und daher nicht als Grundlage für eine Auslegung des nationalen Rechts contra legem dienen darf. Folglich wird das BAG sorgfältig prüfen, ob überhaupt ohne  Beantwortung der oben gestellten Fragen durch den EuGH eine Pflicht zur unionsrechtskonformen Auslegung des Arbeitnehmerbegriffs des § 1 Abs. 1 Satz 1 und 2 AÜG besteht oder ob lediglich die Gebote des § 9 AÜG im Wege der unionsrechtskonformen Auslegung auch von DRK-Schwesternschaften einzuhalten sind. Er wird ferner sorgfältig prüfen, ob und inwieweit der Grundsatz der Rechtssicherheit und Art. 9 Abs. 1 GG einer unionsrechtskonformen Auslegung und einer erweiternden Anwendung des Arbeitnehmerbegriffs auf DRK-Schwestern Grenzen setzt, solange sie aufgrund ihrer Arbeitsleistung geschützt sind.

Wie könnte der EuGH die Leiharbeitsrichtlinie auslegen?

Art. 1 Absatz 1 der Leiharbeitsrichtlinie, wonach die Richtlinie für Arbeitnehmer gilt, die mit einem Leiharbeitsunternehmen einen Arbeitsvertrag geschlossen haben oder ein Beschäftigungsverhältnis eingegangen sind und die entleihenden Unternehmen zur Verfügung gestellt werden, um vorübergehend unter deren Aufsicht und Leitung zu arbeiten, regelt zusammenhängend ihren Anwendungsbereich. So wie es vorstellbar ist, dass die dem Wortlaut nach beschreibende und nach dem Willen des Gesetzgebers Unionsrecht transformierende Regelung des § 1 Abs.1 Satz 2 AÜG im Sinne einer Verbotsnorm ausgelegt wird, so wenig ist voraussehbar, wie der EuGH den Anwendungsbereich der Leiharbeitsrichtlinie unter Beachtung ihres Titels und des weiteren Inhalts einschließlich der Erwägungsgründe durch Auslegung ermittelt. Es ist keinesfalls ausgeschlossen, dass er, wie das BAG in anderen Zusammenhängen, zwischen ihrem normativen Geltungsanspruch und ihrem unmittelbaren Anwendungsbereich unterscheidet und dass ihr Geltungsanspruch noch über den Anwendungsbereich hinaus reicht und alle Formen der Leiharbeit erfasst. Insbesondere kann nur der EuGH als gesetzlicher Richter darüber entscheiden, ob sie oder die Grundfreiheiten Beschränkungen bei der dauerhaften Überlassung entgegenstehen, weil die Richtlinie Leiharbeitnehmer und Verleihunternehmen schützt.  Nach dem Erwägungsgrund 18 sollte die Verbesserung des Mindestschutzes der Leiharbeitnehmer mit einer Überprüfung der Einschränkungen einhergehen, die in Bezug auf Leiharbeit als solche gelten. Nach Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie stehen solche Einschränkungen unter einem Rechtfertigungszwang.

Durch eine erneute Befragung würde dem EuGH zugleich die Möglichkeit gegeben, das der Auslegung von § 1 Abs. 1 Satz 2 AÜG zugrunde liegende Paradigma des Schutzes kollektiver Interessen der Stammbelegschaft auf seine Vereinbarkeit mit den Grundfreiheiten und der Leiharbeitsrichtlinie zu überprüfen und die Auslegung des Begriffs "vorübergehend" im Zusammenhang mit der dauerhaften Überlassung von Mitgliedern eines Vereins auch mit Blick auf die durch Artikel 12 Abs. 1 GR Charata gewährleistete Vereinigungsfreiheit zu klären. Eine "schonende Befragung" des EuGH, die zunächst nur ein einzelnes Element einer Norm in den Blick genommen und den unionsrechtlichen Normzusammenhang nicht berührt hat, war mit Rücksicht auf die Entscheidung des 7. Senats und auf die zum Zeitpunkt der Vorlage noch ausstehende Antwort des EuGH gut nachvollziehbar. Nur wenn es bei der orakelhaften Entscheidung des EuGH bliebe und der 1. Senat den Dialog mit dem EuGH abbrechen würde, könnte ein solcher Abbruch das Kooperationsverhältnis zwischen den Gerichten der Mitgliedstaaten und dem EuGH beeinträchtigen. Dass der 1. Senat dies auf´s Spiel setzen könnte, kann ihm nicht unterstellt werden. Eher schon, dass er längst weiß, welche weiteren Fragen relevant sind. Welche Bedeutung er den weiteren Erwägungen des EuGH beimisst, nämlich, dass Artikel 3 Absatz 2 der Richtlinie besagt, dass der Unionsgesetzgeber die Befugnis der Mitgliedstaaten bestehen lassen wollte, die unter den Arbeitnehmerbegriff im Sinne ihres nationalen Rechts fallenden und im Rahmen ihrer innerstaatlichen Regelung zu schützenden Personen zu bestimmen und dass die Harmonisierung dieses Aspekts nicht Gegenstand der Richtlinie ist, und dass sich aus den Erwägungsgründen 10 und 12 der Richtlinie ergibt, dass sich in Bezug auf die rechtliche Stellung, den Status und die Arbeitsbedingungen von Leiharbeitnehmern innerhalb der Union große Unterschiede feststellen lassen und dass die Richtlinie einen diskriminierungsfreien, transparenten und verhältnismäßigen Rahmen zum Schutz dieser Arbeitnehmer festlegen und gleichzeitig die Vielfalt der Arbeitsmärkte und der Arbeitsbeziehungen wahren soll, bleibt abzuwarten. Die Analyse der "Ärzte-Zeitung", die von alledem nichts wissen will, ist lediglich insoweit hilfreich, als sie die Ursache banger Erwartung offenlegt, nämlich die wenig hilfreiche Antwort des EuGH, die für Laien allenfalls den Blick in die Glaskugel freigibt. Wer aber, wie der 1. Senat, das Mehrebenensystem kennt und weiß, dass die "gespaltene Auslegung" nicht beliebig, sondern nur kohärent und verfassungskonform angewendet werden kann, um die Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung nicht zu überschreiten und dem gebot der Rechtssicherheit zu entsprechen, und dass in jedem Fall entweder Art. 9 Abs. 1 GG oder Art. 12 Abs. 1 EU GR Charta zu beachten ist, kann den Vorhang noch nicht schließen, sondern wird die noch klärungsbedürftigen Fragen formulieren.

Fazit

Das Mehrebenensystem sollte den Blick auf das Wesentliche nicht versperren: DRK-Schwestern üben sozialpolitisch erwünschte unbefristete und sozialversicherungspflichtige Dauerbeschäftigungen aus (siehe dazu Erwägungsgrund 15 der Richtlinie); eine - allenfalls prima vista unionsrechtlich determinierte - mit Blick auf den auch unionsrechtlich anerkannten Grundsatz der Rechtssicherheit und die einschlägigen, die Vereinsautonomie sichernden Grundrechte nur innerhalb bestimmter Grenzen zulässige, sorgsam zu bedenkende Rechtsfortbildung, die zu einer Änderung jahrzehntelanger Rechtsprechung führen würde, würde DRK-Schwestern ab dem 1. April einem Rotationsprinzip unterwerfen und einen Wechsel ihres Einsatzbereichs nach 18 Monaten erzwingen. Wem damit nicht gedient wäre, ist evident! Der vermeintliche Schutz würde sich gegen diejenigen wenden, die geschützt werden sollen und nach dem obiter dictum des EuGH bereits geschützt sind und nach dem zentralen Relativsatz seiner Entscheidung auch nur dann der Leiharbeitsrichtlinie unterfallen, wenn und weil sie in der Bundesrepublik Deutschland aufgrund dieser Arbeitsleistung geschützt sind. Ein Stück gewachsene - und nicht erst durch die Globalisierung geschaffene - Vielfalt der Arbeitsbeziehungen, die die Leiharbeitsrichtlinie auch gewährleisten will (siehe den Erwägungsgrund 16 der Richtlinie), ginge darüber verloren. Weitet man den Blick in der Gegenwart, kann bei einem seit Jahren herrschenden Arbeitskräftemangel im Gesundheitssektor der freiwillige Beitritt zu einer DRK-Schwesternschaft kaum aus Mangel an Alternativen erfolgen, sondern nur als Ausdruck der Wahrnehmung der rechtlich und faktisch garantierten freien Arbeitsplatzwahl und als bewusste Wahl einer bestimmten Grundlage für die Berufsausübung angesehen werden. Man kann dies auch Überzeugung nennen. Auch wenn die Grundsätze der Rot-Kreuz-Bewegung keine Weltanschauung sind, ist vielleicht das mit der Mitgliedschaft in einer Nationalen Hilfsgesellschaft, die in ein komplexes und integriertes, nach dem Subsidiaritätsprinzip organisiertes Hilfeleistungssystem des Zivil- und Katastrophenschutzes eingebunden ist (siehe §§ 26 Abs. 2, 22 Abs. 2 und 3, 3 ZSKG i.V.M dem DRK-Gesetz und Art. 63 der IV. Genfer Konvention), verbundene Ethos für DRK-Schwestern wirkmächtiger als die Anziehungskraft des § 611 a BGB. Ein paternalistischer Schutz würde nicht nur DRK-Schwestern nicht nur diese Identität absprechen, sondern auch die Fähigkeit, in Notfällen die schnelle Einsatzbereitschaft ihrer Einheiten und Einrichtungen sicherzustellen, beeinträchtigen. Weitet man den Blick über den Alltag hinaus und bezieht man den Fall ein, den alle verantwortlich handelnden vermeiden wollen, darf nicht außer Acht gelassen werden, dass DRK-Schwestern sich in Friedenszeiten freiwillig bereit erklären, auch im Verteidigungsfall im zivilen und militärischen Lazarettdienst anderen Menschen zu helfen und dass in einem freiheitlichen Staat auch im Spannungs- und Verteidigungsfall das Prinzip der Freiwilligkeit Vorrang vor Z1wangsverpflichtungen hat (siehe §§ 1 und 2 Nr. 3 des Arbeitssicherstellungsgesetzes). Es würde Fragen nach der Vorwirkung dieses Freiwilligkeitsgrundsatzes aufwerfen, wenn "ohne Not" die Freiheit des Art. 9 Abs. 1 GG über Bord geworfen werden würde.

FA FAArbR Axel Groeger, Bonn www.redeker.de

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