02.08.2022

BeA in 2022: Neue Entscheidungen Teil 1: Prüfungspflicht von Rechtsanwält:innen auf Richtigkeit und Vollständigkeit des Schriftsatzes sowie der korrekten Eintragung von Fristen

Portrait von Daniel Mantel
Daniel Mantel Rechtsanwalt, Fachanwalt für Arbeitsrecht

Für die Anwaltschaft und andere Nutzer:innen des beA wird durch die Gerichte an den Stellschrauben nochmals deutlich gedreht.

Denn: nach und nach befassen sich immer mehr Gerichte mit Rechtsfragen rund um das beA und konkretisieren die Pflichten der Anwaltschaft. Der BGH, das BSG sowie das OLG Bamberg liefern insgesamt vier neue Grundsatzentscheidungen und stellen mitunter hohe Anforderungen an Rechtsanwält:innen.

In Teil 1 dieser Serie bespreche ich zwei Entscheidungen des BGH zu den im Titel genannten Themen. In Teil 2 der Serie bespreche ich eine Entscheidung des BSG zum Thema Unterschrift und einfache elektronische Signatur und eine weitere des OLG Bamberg zur Pflicht eines unzuständigen Gerichts, einen Schriftsatz (elektronisch) weiterzuleiten.

BGH: Prüfungspflicht auf Richtigkeit und Vollständigkeit des Schriftsatzes

BGH, Beschluss vom 08.03.2022 – VI ZB 78/21

Leitsatz – redaktionell –

Bei einer Versendung über das beA sind Rechtsanwält:innen persönlich verpflichtet, den Schriftsatz auf Richtigkeit und Vollständigkeit zu prüfen. Diese Pflicht kann nicht übertragen werden.

Der Fall

Die Rechtsanwältin hatte ihre Berufungsbegründung fertiggestellt und ihre Sekretärin sollten diese per beA nach qualifizierter elektronischer Signatur (qes) versenden; ein üblicher Verfahrensablauf in vielen Kanzleien. Nachdem die Sekretärin den (vollständigen) Schriftsatz zur Signierung in die Anwaltssoftware einstellte, entdeckte die Anwältin noch einen Tippfehler auf der ersten Seite und wies die Sekretärin an, diesen zu verbessern. Den verbesserten Schriftsatz stellte die Sekretärin wiederum in die Anwaltssoftware zur Signierung ein; aufgrund eines Versehens aber nur die erste Seite. Die Rechtsanwältin kontrollierte lediglich den Tippfehler signiert den Schriftsatz. Die Sekretärin versendete den signierten aber unvollständigen Schriftsatz. Die Anwältin versuchte Wiedereinsetzung in die versäumte Berufungsbegründungsfrist zu beantragen. Mit Erfolg?

Wie hat das Gericht entschieden?

Den Antrag der Rechtsanwältin auf Wiedereinsetzung lehnte der BGH ab. Es gehöre zu den Aufgaben von Rechtsanwält:innen, dafür zu sorgen, dass ein fristgebundener Schriftsatz rechtzeitig erstellt und gesendet werde. Diese Pflicht könne nicht auf angestelltes Kanzleipersonal übertragen werden, ohne das Arbeitsergebnis nochmals selbst sorgfältig zu überprüfen. Rechtsanwält:innen handeln daher schuldhaft, wenn sie eine Rechtsmittelbegründungsschrift unterschreiben, ohne sie zuvor auf Richtigkeit und Vollständigkeit zu überprüfen. Dies gelte auch, wenn ein Schriftsatz – wie hier – zum zweiten Mal vorgelegt werde. Eine Prüfungspflicht bestehe immer dann, wenn ein noch nicht unterzeichneter Schriftsatz in den Kontroll- und damit auch Verantwortungsbereich von Rechtsanwält:innen gelange. Werde der Schriftsatz ungeprüft unterzeichnet, sei dies einer stets schuldhaften Blankounterzeichnung gleichzustellen.

Konsequenzen für die Praxis

Der BGH positioniert sich in seiner Entscheidung recht deutlich: Jeder Schriftsatz, der in den Kontroll- und Verantwortungsbereich von Rechtsanwält:innen gelangt, ist stets auf Richtigkeit und Vollständigkeit zu kontrollieren. Dies bedeutet teilweise eine Änderung zu den früheren analogen Workflows und eine Verschärfung für Rechtsanwält:innen. Besonders deutlich wird dies bei folgendem Szenario:

 

> Analoger Workflow
  1. Der Schriftsatz wird mit der Unterschriftsmappe vorgelegt
  2. Der/die Rechtsanwält:in liest und prüft den Schriftsatz
  3. In der Anschrift wird ein Fehler entdeckt
  4. Schriftsatz wird dennoch unterzeichnet und das Fachpersonal angewiesen, die erste Seite auszutauschen, bevor der Schriftsatz zur Post geht
  5. Der Austausch der ersten Seite unterbleibt versehentlich
  6. Der Schriftsatz wird versendet
  7. Wiedereinsetzung? Erfolgreich, da das Fachpersonal die Weisung nicht befolgt hat

 

> Digitaler Workflow
  1. Der Schriftsatz wird mit der digitalen Unterschriftsmappe vorgelegt/im beA hochgeladen
  2. Der/die Rechtsanwält:in liest und prüft den Schriftsatz
  3. In der Anschrift wird ein Fehler entdeckt
  4. Schriftsatz kann nicht signiert werden
  5. Vorgang wird abgebrochen und das Fachpersonal angewiesen, die erste Seite auszutauschen
  6. Der Austausch der ersten Seite unterbleibt versehentlich
  7. Der (fehlerhafte) Schriftsatz wird nochmals mit der digitalen Unterschriftsmappe vorgelegt/im beA hochgeladen
  8. Der/die Rechtsanwält:in signiert den Schriftsatz ohne erneute Prüfung (über Fachpersonal Vergangenheit stets zuverlässig)
  9. Der Schriftsatz wird versendet
  10. Wiedereinsetzung? Nicht erfolgreich; die blinde Unterzeichnung kommt einer Blankounterschrift gleich

Die analogen und digitalen Abläufe der Ziff. 1 bis Ziff. 7 sind nahezu identisch. Der Unterschied beginnt ab Ziff. 8. Im analogen Workflow wird der Schriftsatz dem/der Rechtsanwält:in gerade eben nicht nochmals vorgelegt. Es besteht also beim analogen Workflow – im Gegensatz zum digitalen – daher auch keine nochmalige Prüfungspflicht.

Fazit

„Lieber einmal zu viel geprüft als zu wenig.“ Rechtsanwält:innen müssen sich vor der Signatur bewusst machen, dass der Schriftsatz auf seine Vollständigkeit und Richtigkeit zu prüfen ist. Dies bedeutet, dass neben der korrekten Anzahl der Seiten u. a. auch die Gerichtszuständigkeit sowie die Richtigkeit der Anschriften u.Ä. zu überprüfen sind. Und: Diese Pflicht kann nicht übertragen werden.

BGH: Rechtsanwält:innen müssen korrekte Eintragung von Fristen prüfen

BGH, Beschluss vom 15.2.2022 – VI ZB 37/20

Leitsatz – redaktionell -

Sofern die Eintragung von Fristen dem Kanzleipersonal überlassen wird, ist durch eine entsprechende Organisation sicherzustellen, dass die Fristen zuverlässig notiert werden. Fehlt jede Sicherung, bedeutet dies einen schweren Organisationsmangel, erst recht, wenn die Anweisung nur mündlich erteilt wird.

Konsequenzen für die Praxis & Fazit

„Vertrauen ist gut, Kontrolle ist (laut BGH) besser.“ Der BGH stellt klar, Rechtsanwält:innen dürfen die Eintragung von Fristen grundsätzlich auf zuverlässiges Kanzleipersonal übertragen. Sie müssen jedoch gleichfalls entsprechende organisatorische Vorkehrungen treffen, die sicherstellen, dass die Fristen korrekt eingetragen werden. Dies gilt sowohl hinsichtlich routinemäßiger Abläufe, wie der Eintragung von Fristen im Rahmen des Posteingangs, aber auch hinsichtlich konkreter Einzelanweisungen an das Personal. Welche konkreten Anforderungen an die Organisation im Fristenwesen zu stellen sind, führte der BGH in dieser Entscheidung nicht aus; hierauf kam es nicht an. In früheren Entscheidungen stellte der BGH folgende Anforderungen auf (nicht abschließend):

 

> Bei Einzelanweisungen …

… stellt der BGH klar, dass Rechtsanwält:innen sich z. B. vor Verlassen der Kanzleiräume vergewissern müssen, dass die Weisung ordnungsgemäß ausgeführt wurde. Vorkehrungen sind nur dann entbehrlich, wenn das Kanzleipersonal die unmissverständliche Weisung erhält, den Vorgang sofort zu erledigen (vgl. BGH, Beschl. v. 5.5.2021 – XII ZB 552/20).

 

> Bei routinemäßigen Abläufen …

… stellt der BGH u.a. folgende Anforderungen auf: Das Kanzleipersonal soll angewiesen werden, die Fristen zuerst im Fristenkalender und dann erst in der Handakte einzutragen (BGH, Beschl. v. 23.01.2013 - XII ZB 167/11). Zudem muss die Handakte durch entsprechende Erledigungsvermerke oder in sonstiger Weise erkennen lassen, dass die Fristen in den Fristenkalender eingetragen worden sind. Wird Rechtsanwält:innen die Sache vorgelegt, müssen diese prüfen, ob die Anweisungen eingehalten und die Fristen richtig berechnet und notiert worden sind, wobei sich die Prüfung grundsätzlich auf die Vermerke in der Handakte beschränken darf. Diese anwaltliche Prüfungspflicht besteht auch dann, wenn die Handakte nicht zugleich zur Bearbeitung mit vorgelegt wird. Rechtsanwält:innen müssen sich in diesen Fällen die Handakte vorlegen lassen (BGH, Beschl. v. 23.6.2020 – VI ZB 63/19).

Mehr zum Thema "beA":

Die Frage, ob ein Vergleichsvorschlag zur gerichtlichen Feststellung durch Beschluss (§ 46 Abs. 2 ArbGG i. V. m. §§ 495, 278 Abs. 6 Satz 2 ZPO) qualifiziert signiert sein muss, bespreche ich auf arbrb.de in folgendem Blog.

Hinweis:

Teil 2 der  Serie "BeA in 2022: Neue Entscheidungen" erscheint in einer Woche, d. h. am Dienstag, den 09.08.2022.

 

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