04.01.2016

Der Fall Schüth erneut vor dem Bundesarbeitsgericht - zur Zivilrechtsdogmatik im arbeitsgerichtlichen Verfahren

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Axel Groeger

Bernhard Schüth war seit den 1980er Jahren bei einer katholischen Kirchengemeinde als Organist und Chorleiter angestellt. 1994 trennte er sich von seiner Ehefrau, von 1995 an lebte er mit einer neuen Partnerin zusammen. Nachdem bekannt geworden war, dass er wieder Vater werden würde, führte der Gemeindevorstand im Juli 1997 ein Gespräch mit ihm. Wenige Tage später wurde ihm mit Wirkung zu Ende April 1998 gekündigt, da er gegen die Grundordnung der Katholischen Kirche für den kirchlichen Dienst im Rahmen kirchlicher Arbeitsverhältnisse (GrO) verstoßen habe. Herr Schüth erhob Klage gegen seine Kündigung, die letztlich erfolglos blieb; nach Einschätzung der Gerichte habe die Gemeinde Herrn Schüth nicht ohne den Verlust  eigener Glaubwürdigkeit weiter beschäftigen können, da seine Tätigkeit in enger Verbindung mit der kirchlichen Mission gestanden habe.

Im Januar 2003 erhob Herr Schüth mit Blick auf die Entscheidungen über die Kündigung beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) Individualbeschwerde gegen die Bundesrepublik Deutschland. Mit Urteil vom 23. September 2010 stellte der Gerichtshof (Kammer der 5. Sektion) einen Verstoß gegen Art. 8 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) fest (1620/03 - EUGRZ 2010, 560 = ArbRB 2010, 294 [Kotthaus]). Die Interessenabwägung der deutschen Arbeitsgerichte habe nicht in Einklang mit der Konvention gestanden; die Gerichte hätten nicht hinreichend dargelegt, warum die Belange des kirchlichen Arbeitgebers das Recht des Klägers auf Achtung seines Privat- und Familienlebens nach Art. 8 EMRK bei weitem übertroffen hätten. Mit Urteil vom 28. Juni 2012 erkannte der Gerichtshof Herrn Schüth gemäß Art. 41 EMRK eine Entschädigung i.H.v. 40.000,00 Euro zu.

Im Oktober 2010 erhob Herr Schüth beim Landesarbeitsgericht eine Restitutionsklage nach § 580 Nr. 8 ZPO. Sie wurde vom Landesarbeitsgericht und Bundesarbeitsgericht als unzulässig zurückgewiesen. Nach § 35 EGZPO ist der Restitutionsgrund des § 850 Nr. 8 ZPO auf Verfahren, die vor dem 31. Dezember 2006 rechtskräftig abgeschlossen worden sind, nicht anzuwenden. Das BAG hat jedoch ausgeführt, dass die vom EGMR festgestellte Konventionsverletzung für die Rechtsbeziehung der am Ausgangsverfahren beteiligten Parteien dennoch nicht in jeder Hinsicht folgenlos bleiben müsse. So könne das vom EGMR angenommene Abwägungsdefizit in Fällen wie dem vorliegenden u.U. im Rahmen eines Wiedereinstellungsbegehrens des Arbeitnehmers Bedeutung gewinnen. Einem solchen Antrag stünde die materielle Rechtskraft der im Kündigungsschutzprozess ergangenen klageabweisenden Entscheidung nicht entgegen (BAG vom 22.11.2012 - 2 AZR 570/11, BAGE 144, 59). Gegen dieses Urteil hat Herr Schüth Verfassungsbeschwerde erhoben (anhängig unter 1 BvR 1595/13).

In einem weiteren Verfahren hat Herr Schüth einen Wiedereinstellungsanspruch sui generis geltend gemacht. Der Anspruch ergebe sich aus der noch andauernden Verletzung seines Privatlebens gemäß Art. 8 EMRK. Diese sei zu beseitigen. Zumindest habe er einen Wiedereinstellungsanspruch ab dem 28. April 2015 oder ab dem 1. August 2015. Denn die Vollversammlung des Verbands der Diözesen Deutschlands (VDD) habe auf ihrer Sitzung am 27. April 2015 eine Änderung der GrO beschlossen. Danach sei die erneute standesamtliche Heirat nach einer zivilen Scheidung oder das Eingehen einer eingetragenen Lebenspartnerschaft zukünftig grundsätzlich nur dann als schwerwiegender Loyalitätsverstoß zu werten, wenn dieses Verhalten nach den konkreten Umständen geeignet sei, die Glaubwürdigkeit der Kirche zu beeinträchtigen. Er habe aber nicht wieder geheiratet. Die Klage hatte - auch vor dem Bundesarbeitsgericht - keinen Erfolg. Das BAG hat dazu ausgeführt, dass dann, wenn sich aus dem nationalen Recht auch nach konventionsfreundlicher Auslegung unter Anwendung der anerkannten Methoden der Gesetzesauslegung und Verfassungsinterpretation kein Anspruch herleiten lässt, die Gerichte keine Anspruchsgrundlage annehmen dürfen. Die nationale Zivilrechts- und Zivilverfahrensrechtsdogmatik stehen der richterrechtlichen Anerkennung eines Wiedereinstellungsanspruchs trotz einer vom EGMR festgestellten Konventionsverletzung durch ein rechtskräftiges klageabweisendes Urteil im Kündigungsschutzverfahren entgegen. Die EMRK sowie das Grundgesetz verlangten die Berücksichtigung eines Urteils des EGMR im Rahmen der Auslegung nationalen Gesetzesrechts dann, wenn eine erneute Entscheidung der Sache in „anderem Gewand“ ansteht und damit trotz Rechtskraft der vorangegangenen Entscheidung aufgrund des anderen Streitgegenstands verfahrensrechtlich möglich ist. Nicht geboten sei es jedoch, ein materiell-rechtlich „neues Gewand erst zu schneidern“, um eine gerichtliche Entscheidung zugunsten des im rechtskräftig entschiedenen Vorprozess Unterlegenen zu ermöglichen. Dies gelte im Sinne der Gewaltenteilung zumindest dann, wenn aus dem „Stoff“ des vorhandenen Gesetzesrechts der Anspruch nicht geschöpft werden könne und deshalb ein normativer Anknüpfungspunkt für die Rechtsfortbildung fehle. Die Verpflichtung zur konventionsfreundlichen Auslegung nationalen Rechts ende dort, wo dies nach den anerkannten Methoden der Gesetzesauslegung und Verfassungsinterpretation nicht mehr vertretbar erscheine. Sie dürfe nicht dazu führen, dass der Grundrechtsschutz nach dem Grundgesetz eingeschränkt werde; das schließe auch Art. 53 EMRK seinerseits aus. Dieses Rezeptionshemmnis könne vor allem in mehrpoligen Grundrechtsverhältnissen relevant werden, in denen das „Mehr“ an Freiheit für einen Grundrechtsträger zugleich ein „Weniger“ für einen anderen bedeute. Im Übrigen sei auch im Rahmen der konventionsfreundlichen Auslegung des Grundgesetzes - ebenso wie bei der Berücksichtigung der Rechtsprechung des EGMR auf der Ebene des einfachen Rechts - die Rechtsprechung des EGMR möglichst „schonend“ in das vorhandene, dogmatisch ausdifferenzierte nationale Rechtssystem einzupassen. Bei der insoweit erforderlichen wertenden Berücksichtigung durch die nationalen Gerichte könne nach der Rechtsprechung des BVerfG auch dem Umstand Rechnung getragen werden, dass das Individualbeschwerdeverfahren vor dem EGMR, insbesondere bei zivilrechtlichen Ausgangsverfahren, die beteiligten Rechtspositionen und Interessen möglicherweise nicht vollständig abbilde (BAG vom  20.10.2015 - 9 AZR 743/14).

RA FAArbrR Axel Groeger, Bonn www.redeker.de

 

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