Dr. Nathalie Oberthür im Interview über den schwierigen Umgang mit der zunehmenden Europäisierung des deutschen Arbeitsrechts
Im Arbeitsrecht werden die Grenzen zwischen nationalen und unionsrechtlichen Vorgaben immer fließender. Gleichzeitig nehmen die Abgrenzungsprobleme zu. Das zeigen nicht nur DSGVO und BDSG im Bereich des Beschäftigtendatenschutzes, sondern insbesondere auch die aufsehenerregenden Entscheidungen des EuGH zum Arbeitszeit- und Urlaubsrecht. Wie die Beratungspraxis mit diesem „Vormarsch des Unionsrecht“ am besten umgehen kann, ist Thema der Kölner Tage Arbeitsrecht am 23. und 24.4.2020. Ich habe mit einer der Tagungsleiterinnen, Dr. Nathalie Oberthür [1] über die zunehmende Europäisierung des Arbeitsrechts gesprochen.
Rülfing: Liebe Frau Dr. Oberthür, befindet sich das europäische Arbeitsrecht aktuell tatsächlich „auf dem Vormarsch“? Arbeitsrechtliche Richtlinien und Verordnungen gibt es ja schon lange, ebenso arbeitsrechtliche EuGH-Entscheidungen.
Oberthür: Die arbeitsrechtlichen Richtlinien sind nicht neu, aber wir erleben eine zunehmende Tendenz des Europäischen Gerichtshofs, durch seine Rechtsprechung in die nationalen Rechtsordnungen unmittelbar „hineinzuregieren“, indem Richtlinieninhalte über die Grundrechte-Charta zu unmittelbar anwendbarem Recht erklärt werden. Wie detailreich die Vorgaben des Europäischen Gerichtshofs dabei sind, zeigen die jüngsten Entscheidungen zur Arbeitszeiterfassung und zu den Handlungsobliegenheiten des Arbeitgebers bei der Urlaubsgewährung. Hinzu kommt die Bereitschaft der deutschen Rechtsprechung, nationales Recht weit über den Wortlaut hinaus unionsrechtskonform auszulegen. Der deutsche Gesetzgeber bleibt bei alldem untätig und vermeidet es, seinem Gestaltungsauftrag nachzukommen, so dass sich die arbeitsrechtliche Praxis nur noch an der Rechtsprechung orientieren kann.
Rülfing: Wo liegen denn konkret die Probleme für die Unternehmen bzw. ihre Berater?
Oberthür: Früher konnten wir sagen „Der Blick ins Gesetz erleichtert die Rechtsfindung“. Da sich der Gesetzgeber allerdings weigert, die unionsrechtlichen Vorgaben umzusetzen, entspricht das nationale Gesetzesrecht in vielen Bereichen nicht mehr der tatsächlichen Rechtslage. Hinzu kommt, dass der Gerichtshof in der Regel keinen Vertrauensschutz gewährt, wenn er nationales Recht für unionsrechtswidrig erklärt. Man muss im Arbeitsrecht daher nicht nur die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs kennen, sondern nötigenfalls auch antizipieren, in welchen anderen Bereichen unser bisheriges Rechtsverständnis Änderungen erfahren könnte, um teure Fehler zu vermeiden.
Rülfing: In seinen arbeitsrechtlichen Entscheidungen betont der EuGH nach meiner Wahrnehmung zunehmend die Bedeutung der Grundrechte-Charta. Teilen Sie diesen Eindruck?
Oberthür: Ja, unbedingt. Der Gerichtshof hält zwar daran fest, dass Richtlinien keine unmittelbare Drittwirkung besitzen, entnimmt aber den Grundrechten immer wieder konkrete Regelungsinhalte, die letztlich zum selben Ergebnis führen.
Rülfing: Welche Risiken bzw. Unsicherheiten sind hiermit verbunden? Ich denke da z.B. an das Verhältnis der Judikate des EuGH zu denen des Bundesverfassungsgerichts.
Oberthür: Ich glaube nicht, dass es zu einem Kompetenzstreit zwischen EuGH und BVerfG kommen wird. Das BVerfG hat gerade erst mit den beiden Beschlüssen vom 06.11.2019 zum „Recht auf Vergessenwerden“ betont, dass es bei der Grundrechtsprüfung das Schutzniveau der Grundrechte-Charta wahrt, diese bei vollharmonisiertem Fachrecht sogar unmittelbar anwendet. Auch die Rechtsprechung des BVerfG ist damit uneingeschränkt gemeinschaftsfreundlich.
Rülfing: Reichlich Gelegenheit zur Vertiefung des Themas bieten ja die Kölner Tage Arbeitsrecht, die Sie zusammen mit Ihrem Co-Tagungsleiter Prof. Dr. Stefan Lunk konzipiert haben. Auf welchen Vortrag sind Sie besonders gespannt?
Oberthür: Es ist uns gelungen, für die Veranstaltung profilierte Spezialisten aus dem Kreis der Arbeitsrechtsfamilie zu gewinnen, die die Expertise der Richterschaft, der Wissenschaft und der Anwaltschaft vereinen und wissenschaftliche Ansätze mit praktischen Handreichungen verbinden werden. Ich freue mich deshalb auf alle Vorträge in gleichem Maße. Ich darf aber auch sagen, dass mich die von Jens Schubert thematisierte Frage nach einer möglichen Europäisierung des deutschen Kündigungsschutzrechts ganz besonders interessiert.
Rülfing: Zum Schluss: Wenn Sie die Kölner Tage Arbeitsrecht mit drei Attributen kurz umschreiben müssten. Welche wären das?
Oberthür: Auf höchstem Niveau aktuell, spannend und inspirierend.
[1] Dr. Nathalie Oberthür ist Rechtsanwältin, Fachanwältin für Arbeitsrecht und Sozialrecht bei RPO Rechtsanwälte, Köln. Sie ist Autorin zahlreicher arbeitsrechtlicher Fachbeiträge, Mitherausgeberin des Arbeits-Rechtsberaters und Mitautorin u.a. des Arbeitsrecht Handbuchs von Tschöpe und des Handbuchs Arbeitsrecht im öffentlichen Dienst von Groeger. Daneben referiert sie regelmäßig bei zahlreichen arbeitsrechtlichen Fachveranstaltungen. Dr. Nathalie Oberthür ist Mitglied des Geschäftsführenden Ausschusses der Arbeitsgemeinschaft Arbeitsrecht im DAV und Vorsitzende des Gesetzgebungsausschusses Arbeitsrecht im DAV.
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