06.01.2017

Erwartungen

Portrait von Axel Groeger
Axel Groeger

Manch einer erwartet gespannt weitere Reformen des Gesetzgebers und daraus resultierende Arbeit als Anwalt, andere erwarten hingegen freudig das neue Jahr mit einem zusätzlichen gesetzlichen Feiertag, dem Reformationsfest, und arbeitnehmerfreundlicheren Weihnachten. Während der eine den Eintritt in den Ruhestand mit viel Zeit für Hobbys kaum erwarten kann (und damit herbeisehnt und wohl auch hoffnungsvoll erwartet), empfinden andere diesen Wechsel eher wie eine unerwünschte Widerfahrnis und möchten den betreffenden Tag möglichst noch weit von sich weisen. Erwartungen, positive wie negative, sind mit einem Ausblick auf die Zukunft verbunden. Wenn sie auf gewissen Erfahrungen beruhen, spricht man eher von Prognosen. Im Recht geht es eher um diese als um jene anfangs geschilderten Empfindungen.

Bevor es wirklich - versprochen - zur Sache geht, noch eine rhetorische Frage: Wer hat 2006 erwartet, dass der Gesetzgeber 2014 mit dem Gesetz über Leistungsverbesserungen in der gesetzlichen Rentenversicherung mit § 236 b Abs. 2 SGB VI für besonders langjährig Versicherte die Möglichkeit einführen würde, Altersrente abschlagsfrei mit Vollendung des 63. Lebensjahrs in Anspruch zu nehmen? Es war zwar die Zeit noch vor der Weltwirtschaftskrise und auch damals regierte bereits eine Große Koalition mit einem Arbeits- und Sozialminister, der von der SPD gestellt wurde, aber ...

2006 schloss ein 1952 geborener Arbeitnehmer mit seinem Arbeitgeber einen Vertrag über Altersteilzeitarbeit ab. Hiernach wurde das Arbeitsverhältnis ab dem 1. November 2007 als Altersteilzeitarbeitsverhältnis fortgeführt. Nach § 2 des Vertrages wurde die Altersteilzeit im Wege des sogenannten Blockmodells durchgeführt. Vom 1. November 2007 bis 31. Oktober 2011 war der Kläger in Vollzeit tätig. Vom 1. November 2011 bis 31. Oktober 2015 war der Kläger von der Arbeitsleistung freigestellt. In § 9 Abs. 1 trafen die Parteien folgende Regelung:

"Das Arbeitsverhältnis/Altersteilzeitverhältnis endet auf Wunsch des Arbeitnehmers mit Ablauf des 31. Oktober 2015. Der Arbeitnehmer ist sich bewusst, dass er dadurch bei seiner Altersrente bzw. Zusatzversorgungsrente, die unmittelbar im Anschluss an das Ende des Arbeitsverhältnisses in Anspruch genommen wird, Abschläge hinnehmen muss."

Grundlage für diesen Altersteilzeitvertrag war ein anwendbarer Tarifvertrag, wonach "Beschäftigte, die nach Inanspruchnahme der Altersteilzeit eine Rentenkürzung zu erwarten haben, ... eine einmalige Abfindung brutto für netto (erhalten)." Die Höhe der Abfindung ist nach dem vollendeten Lebensalter bei Beginn der Altersteilzeit degressiv gestaffelt und beträgt bei Beschäftigten, die

- das 56. Lebensjahr noch nicht vollendet haben 4 Bruttomonatsgehälter
- das 58. Lebensjahr noch nicht vollendet haben 3 Bruttomonatsgehälter
- das 59. Lebensjahr noch nicht vollendet haben 1,5 Bruttomonatsgehälter.

Die Abfindung wird zum Ende der Altersteilzeit gezahlt.

Sie ahnen schon, was kommt und Ihre Erwartung wird nicht enttäuscht. Richtig: Der Kläger bezieht seit dem 1. November 2015 eine abschlagsfreie Altersrente für besonders langjährig Versicherte und hat gegenüber dem Arbeitgeber 4 Bruttomonatsgehälter als Abfindung geltend gemacht.

Zu Unrecht, meint jedenfalls das Landesarbeitsgericht Baden-Württemberg (Urt. v. 19.12.2016 - 1 Sa 19/16, ArbRB Online). Nach Auffassung der 1. Kammer spricht bereits der Wortlaut der Tarifnorm mit der erforderlichen Eindeutigkeit gegen die Auslegung, dass es für die Zahlung der Abfindung darauf ankomme, dass im Zeitpunkt des Abschlusses der Altersteilzeitvereinbarung eine Rentenkürzung zu erwarten gewesen sei. Er lege vielmehr nahe, dass die Formulierung "zu erwarten haben" auf den sicheren Eintritt der Rentenkürzung abstelle. Dieses Auslegungsergebnis werde durch die Regelung über die Fälligkeit der Abfindung ein Stück weit bekräftigt, auch wenn diese Regelung in ihrer Aussagekraft nicht überbewertet werden dürfe. Dass sie zum Ende des Altersteilzeitarbeitsverhältnisses gezahlt werde, spreche ebenfalls dafür, dass die Tarifvertragsparteien auf die Sachlage am Ende des Altersteilzeitarbeitsverhältnisses abstellen wollten. Vollends bestätigt werde dieses Auslegungsergebnis jedoch durch den Sinn und Zweck der Tarifnorm. Die Abfindung stelle eine Kompensation für eine "eintretende" Rentenkürzung dar. Daraus folge, dass solche Arbeitnehmer, die - aus welchen Gründen auch immer - später keine Rentenkürzung hinnehmen müssten, keine Abfindung beanspruchen könnten. Der Grund für das Ausbleiben der Kürzung könne beispielsweise sein, dass der Arbeitnehmer überhaupt keine Rente beantragt, sondern weiterarbeitet oder aber aufgrund einer Rechtsänderung eine ungekürzte Rente in Anspruch nehmen könne.

Ganz ehrlich: Noch gestern Nachmittag hatte ich in einer Besprechung einer Mandantin und deren Sohn erklärt, dass nach meinem Kenntnisstand zu der angesprochenen Tarifvorschrift noch keine Rechtsprechung existiert. Irren ist menschlich und Anwälte sind eben auch nur Menschen. Was werde ich ihnen jetzt wohl mitteilen? Das Geheimnis werde ich hier nicht verraten. Es widerspricht jedenfalls meinem Sprachempfinden, dass der Sinn der Worte "etwas zu erwarten haben" gleichbedeutend sein soll mit dem sicheren Eintritt dessen, was man (nur) erwartet. Ach, wäre es doch immer so, dass das Gute, was wir erwarten, auch sicher eintritt, und das Schlechte, von dem wir erhoffen oder gar erwarten, dass es nicht kommt, auch tatsächlich fernbleibt! Im Recht wird durchaus zwischen Ereignissen, die sicher eintreten werden, bei denen aber der Zeitpunkt ihres Eintritts ungewiss ist, und Ereignissen, deren Eintritt bereits ungewiss ist, unterschieden. Ferner wird zwischen dem Entstehen und der Fälligkeit eines Anspruchs unterschieden, was das Landesarbeitsgericht gesehen haben dürfte, weswegen es die Fälligkeitsregelung nicht überbewertet wissen wollte. Dennoch hätte es erklären müssen, warum eine Fälligkeitsregelung überhaupt Rückschlüsse auf den Inhalt des Anspruchs erlaubt. Es überrascht, dass es sich mit keinem Wort damit befasst hat, dass es für die Berechnung der Abfindung nicht auf die Höhe der Rentenabschläge und auch nicht auf das Lebensalter bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses, sondern zu Beginn der Altersteilzeit ankommt.

RA FAArbR Axel Groeger, Bonn www.redeker.de

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