28.10.2022

EU-Mindestlöhne-Richtlinie – Deutscher Mindestlohn: Was gilt heute und morgen?

Portrait von Wolfgang Kleinebrink
Wolfgang Kleinebrink

Der in Deutschland geltende gesetzliche Mindestlohn ist zum 1.10.2022 auf 12,00 € erhöht worden. Auf den ersten Blick damit nicht vereinbar ist, dass heute eine Richtlinie (EU) 2022/2041 über angemessene Mindestlöhne in der Europäischen Union (EU-Mindestlöhnerichtlinie) im EU-Amtsblatt veröffentlicht worden ist (Amtsblatt der Europäischen Union v. 25.10.2022 L 275/33). Die Richtlinie tritt am 14. November 2022 in Kraft. Die Mitgliedstaaten haben bis zum 15. November 2024 Zeit, die Richtlinie in nationales Recht zu überführen und entsprechende nationale Rechts- und Verwaltungsvorschriften einzuführen oder abzuändern.

Wesentliche Inhalte der Richtlinie

Nach Art. 4 Abs. 2 Satz 1 der Richtlinie müssen alle EU-Mitgliedstaaten mit einer Tarifabdeckung von unter 80 Prozent einen Rahmen festlegen, der die Voraussetzungen für Tarifverhandlungen schafft, entweder durch Erlass eines Gesetzes nach Anhörung der Sozialpartner oder durch eine Vereinbarung. Die Mitgliedstaaten müssen außerdem nach Satz 2 und Satz 3 dieser Regelung einen Aktionsplan "mit einem klaren Zeitplan und konkreten Maßnahmen" zur Steigerung der Tarifabdeckung vorlegen.

Art. 5 verlangt ein Verfahren zur Festsetzung angemessener gesetzlicher Mindestlöhne. Bei dieser Festlegung und Aktualisierung sollen Kriterien zugrunde gelegt werden, die zu ihrer Angemessenheit beitragen, mit dem Ziel, einen angemessenen Lebensstandard zu erreichen, die Armut trotz Erwerbstätigkeit zu verringern, den sozialen Zusammenhalt und die soziale Aufwärtskonvergenz zu fördern und das geschlechtsspezifische Lohngefälle zu verringern.

Die Mitgliedstaaten müssen außerdem nach Art. 5 Abs. 4 der Richtlinie bei der Bewertung der Angemessenheit des europäischen gesetzlichen Mindestlohns Referenzwerte zugrunde legen. Zu diesem Zweck können sie auf internationaler Ebene übliche Referenzwerte wie 60 % des Bruttomedianlohns und 50 % des Bruttodurchschnittslohn und/oder Referenzwerte, die auf nationaler Ebene verwendet werden, verwenden.

Die gesetzlichen Mindestlöhne müssen nach Absatz 5 mindestens alle zwei Jahre aktualisiert werden.

Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie ermöglicht den EU-Mitgliedstaaten Ausnahmen oder Abweichungen vom demnach festgelegten europäischen gesetzlichen Mindestlohn, solange diese nicht diskriminierend und unverhältnismäßig sind und "ein legitimes Ziel verfolgen".

Kritik: Verstoß gegen die Kompetenz Ausschluss-Regelung

Die Europäische Union hat mit der Mindestlöhne-Richtlinie gegen die Kompetenzausschluss-Regelung zum Koalitionsrecht und zu Entgeltfragen gemäß Art. 153 Abs. 5 AEUV verstoßen.

Kritik: Verstoß gegen den Grundsatz der Tarifautonomie

An vielen Stellen beachtet die Richtlinie insbesondere das Prinzip der Tarifautonomie nicht. Tarifbedingungen können nicht durch gesetzliche Eingriffe künstlich über ihren verhandelten Geltungsbereich hinaus erweitert werden. Tarifbindung ist Aufgabe der Sozialpartner. Die Erhöhung der Tarifabdeckung durch Ausweitung des Instruments der Allgemeinverbindlichkeitserklärung hätte fundamentale Änderungen des deutschen Tarifsystems zur Folge.

Fehlender Umsetzungsbedarf in deutsches Recht

Die Richtlinie muss nicht in deutsches Recht umgesetzt werden. Art. 1 Abs. 1 legt als Ziel der Richtlinie fest „zur Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen in der Union, insbesondere der Angemessenheit der Mindestlöhne der Arbeitnehmer […] beizutragen“. Dies ist durch die Bestimmungen des nationalen Mindestlohngesetzes vollumfänglich erfüllt.

Ausführlich zum neuen deutschen gesetzliche Mindestlohn Kleinebrink, Die Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns auf 12 € brutto: Risiko und Folgen, DB 2022, 2279 ff. (gratis abrufbar im Rahmen eines Tests des Beratermoduls DER BETRIEB).

Hinweis der Redaktion

Mehr zum Thema aus der ZFA (jetzt kostenlos testen!):

  • Franzen, Der Vorschlag der EU-Kommission für eine Richtlinie über angemessene Mindestlöhne vom 28.10.2020 – kompetenzrechtliche und anwendungsbezogene Fragen, ZFA 2021, 157
  • Giesen, Staatslohn statt Tariflohn – Zur geplanten Einführung eines staatlichen Mindestlohns unter Ausschluss der Mindestlohnkommission, ZFA 2022, 346
  • Schorkopf, Verfassungsrechtlicher Vertrauensschutz und das Mindestlohnerhöhungsgesetz, ZFA 2022, 308
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