EuGH zum Verhältnis des nationalen Rechts zum Unionsrecht
Der Cour de Cassation (Frankreich) wollte vom EuGH erfahren, ob das in Art. 27 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (Charta) anerkannte sowie durch die Richtlinie 2002/14 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer in der Europäischen Gemeinschaft (Richtlinie) konkretisierte Grundrecht auf Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer in einem Rechtsstreit zwischen Privaten geltend gemacht werden kann, um die Rechtmäßigkeit einer nationalen Maßnahme zur Umsetzung dieser Richtlinie überprüfen zu lassen.
Die Große Kammer des EuGH hat dem Cour des Cassation Steine statt Brot gegeben. Der Tenor des Urteils vom 15.1.2014 (Rs. C-176/12) lautet, dass Art. 27 der Charta weder für sich genommen noch in Verbindung mit der Richtlinie dahin auszulegen sei, dass er in einem Rechtsstreit zwischen Privaten geltend gemacht werden kann, um eine nationale Bestimmung, die der Umsetzung der Richtlinie dient, aber mit dem Unionsrecht unvereinbar ist, unangewendet zu lassen.
Zwischen einem Vorlagebeschluss eines nationalen Gerichts und der Entscheidung des EuGH stehen in der Regel die vorbereitenden Schlussanträge des Generalanwalts. Wie muss sich der Generalanwalt Pedro Cruz Villalón wohl vorkommen, der gleich unter Rz. 1 seiner Schlussanträge die Grundsatzfrage, die der Cour de Cassation vorlegt hatte, "mit der größtmöglichen Einfachheit" auf den Punkt gebracht hat: Kann die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, wenn deren Inhalte durch eine Richtlinie konkretisiert wurden, in Beziehungen zwischen Privaten geltend gemacht werden? Die luziden Erwägungen des Generalanwalts haben den Gerichtshof in die Lage versetzt, sich zu verschiedenen, durch drei Vorlagefragen des Cour de Cassation aufgeworfenen Fragen "von unzweifelhafter verfassungsrechtlicher Relevanz" zu äußern. In erster Linie zur Frage der Wirkung der Grundrechte im Verhältnis zwischen Privaten („horizontale“ Wirkung), aber auch zur Frage nach der in Art. 51 Abs. 1 der Charta angedeuteten und in Art. 52 Abs. 5 der Charta formulierten Unterscheidung zwischen „Rechten“ und „Grundsätzen“. Aber auch dass die nochmalige Beleuchtung der Grenzen der unmittelbaren horizontalen Wirkung von Richtlinien "am Ende unvermeidlich in das Kielwasser u. a. der Rechtssachen Mangold und Kücükdeveci" geführt hätte, hat der Generalanwalt herausgearbeitet. Warum der Gerichtshof zu all dem geschwiegen hat, wird man wohl nicht erfahren. Dass hier ein weiterer Fall von "wilful blindness" vorliegt, ist evident.
Luxemburg locuta, causa finita? Der Cour de Cassation könnte die gestellte, jedoch vom Gerichtshof trotz brillianter Vorbereitung durch den Generalanwalt nicht beantwortete Frage, ohne nachtragend zu sein, erneut vortragen (siehe Paletta II).
Folgendes ist nachzutragen:
Erstens die nicht apodiktische, aber dezisionistische Erkenntnis des Gerichtshofs, dass zwar einerseits das in Art. 21 Abs. 1 der Charta niedergelegte Verbot der Diskriminierung wegen des Alters dem Einzelnen ein subjektives Recht verleiht, das er als solches geltend machen kann (siehe Kücükdeveci), dass jedoch andererseits weder Art. 27 der Charta allein noch im Zusammenhang mit den Bestimmungen der Richtlinie 2002/14 dem Einzelnen Rechte verleiht. Zweitens die Entscheidung, dass Art. 27 der Charta und die Bestimmungen der Richtlinie einer nationalen gesetzlichen Vorschrift entgegenstehen, nach der bei der Berechnung der Schwellenwerte für die Einsetzung von Personalvertretungsorganen solche Arbeitnehmer, die im Rahmen eines "bezuschussten Vertrages" beschäftigt werden, unberücksichtigt bleiben.
RA FAArbR Axel Groeger www.redeker.de