Fehlende und fehlerhafte Massenentlassungsanzeige – Rechtsprechungsänderung im Anmarsch?
Kurz vor Jahresende erregt eine Pressemitteilung des Bundesarbeitsgerichts nochmal große Aufmerksamkeit: Der Sechste Senat beabsichtigt seine Rechtsprechung zu den Folgen von fehlenden und fehlerhaften Massenentlassungsanzeigen zu ändern und fragt hierzu beim Zweiten Senat an, ob dieser „mitgeht“. Für die Praxis wäre das – nachdem § 17 KSchG durch die bisherige Rechtsprechung zu einer enormen Hürde bei größeren Personalabbaumaßnahmen geworden ist – ein Paukenschlag.
Rückblick:
Die Geschichte startet mit dem Vorlagebeschluss vom 27.1.2022: Der Sechste Senat des Bundesarbeitsgerichts hat im Verfahren 6 AZR 155/21 darüber zu entscheiden, ob eine Kündigung gemäß § 134 BGB i.V.m. § 17 Abs. 3 Satz 1 KSchG unwirksam ist, wenn der Arbeitgeber der Agentur für Arbeit im Rahmen der Massenentlassungsanzeige keine Abschrift der Mitteilung an den Betriebsrat im Konsultationsverfahren übermittelt. Mit dem entsprechenden Vorlagebeschluss bat das Bundesarbeitsgericht den EuGH um Klärung, ob Art. 2 Abs. 3 Unterabs. 2 RL 98/59/EG (Massenentlassungsrichtlinie, MERL), der der deutschen Regelung zugrunde liegt, individualschützenden Charakter hat (BAG, Vorlagebeschl. v. 27.1.2022 – 6 AZR 155/21 (A), ArbRB 2022, 131 [Braun]; s. auch Mengel/Blume, Die Rechtsfolge von Verstößen gegen § 17 Abs. 3 Satz 1 KSchG – Zum Vorlagebeschluss des Sechsten Senats des BAG vom 27.1.2022 und zur Entscheidung des EuGH v. 13.7.2023 – C-134/22, ZFA 2023, 451 ff.).
Der Generalanwalt Pikamäe kam in seinen Schlussanträgen Ende März 2023 zu dem Ergebnis, dass Art. 2 Abs. 3 Unterabs. 2 RL 98/59/EG keinen Individualrechtsschutz verleihe, weshalb ein Verstoß nicht zur Nichtigkeit bzw. Unwirksamkeit einer Kündigung führen könne. In seiner Begründung wies er u.a. darauf hin, dass die Kommission den Mitgliedstaaten bei den Vorarbeiten zur Vorgängerrichtlinie vorgeschlagen hatte, Nichtigkeitsfolgen für die Kündigungen vorzusehen. Dieser Vorschlag wurde abgelehnt. Hieraus folge, dass die Mitgliedstaaten eine solchen Konsequenz also gerade nicht in der MERL hätten vorsehen wollen. Die Folgen von Verstößen blieben daher dem jeweiligen Mitgliedstaat überlassen, wobei der Effektivitätsgrundsatz (effet utile) zu beachten sei.
Im Mai 2023 setzte der Sechste Senat sodann ein weiteres Verfahren (6 AZR 157/22 (A), ArbRB 2023, 291 [Marquardt]) aus, in dem es um die Unwirksamkeit einer Kündigung wegen nicht erstatteter Massenentlassungsanzeige, also eines Verstoßes gegen § 17 Abs. 1 KSchG ging. Im diesbezüglichen Beschluss vom 11.5.2023 hat das BAG ausgeführt, dass die Ausführungen des Generalanwalts Pikamäe Anlass zu der Frage gäben, ob das bisherige Sanktionssystem im Einklang mit der Systematik des von der MERL vermittelten Massenentlassungsschutzes steht oder ggf. inkohärent oder unverhältnismäßig ist.
Auf das Vorlageersuchen im Verfahren 6 AZR 155/21 hin urteilte der EuGH am 13.7.2023 (Az. C-134/22, ArbRB 2023, 227 [Esser]), dass die Verpflichtung des Arbeitgebers, der zuständigen Behörde eine Abschrift zumindest der in Art. 2 Abs. 3. Unterabs. 1 Buchst. b Ziff i bis v RL 98/59/EG genannten Bestandteile der schriftlichen Mitteilung zu übermitteln, nicht den Zweck hat, den von Massenentlassungen betroffenen Arbeitnehmern Individualschutz zu gewähren. Ob dies auch für die MERL insgesamt bzw. für andere MERL-Pflichten gelte, musste der EuGH nicht entscheiden und äußerte sich hierzu auch nicht. Auch übernahm er nicht das in den Schlussanträgen des Generalanwalts enthaltene Argument, dass die Kommission den Mitgliedstaaten bei den Vorarbeiten zur Vorgängerrichtlinie explizit eine Nichtigkeitserklärung der Kündigung als Folge von Verstößen vorgeschlagen hatte, dies aber nicht umgesetzt worden sei, die Mitgliedstaaten diese Konsequenz also gerade nicht in der MERL hätten vorsehen wollen.
Ankündigung einer Rechtsprechungsänderung
Nach der Entscheidung des EuGH hätte es wenig überrascht, hätte der Sechste Senat in dem zur Vorlagefrage führenden Verfahren 6 AZR 155/21 den Verstoß gegen § 17 Abs. 3 Satz 1 KSchG mit Blick auf die Wirksamkeit der Kündigung für irrelevant erklärt. Laut Pressemitteilung vom 14.12.2023 (PM 46/23) will der Senat aber deutlich über diese (klare) Konsequenz hinausgehen:
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„Der Sechste Senat beabsichtigt, seine Rechtsprechung, dass eine im Rahmen einer Massenentlassung ausgesprochene Kündigung wegen Verstoßes gegen ein gesetzliches Verbot i.S.v. § 134 BGB unwirksam ist, wenn im Zeitpunkt ihrer Erklärung keine oder eine fehlerhafte Anzeige nach § 17 Abs. 1, Abs. 3 KSchG vorliegt, aufzugeben“ heißt es in der Mitteilung (Hervorhebungen natürlich nur hier).
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Es geht also gerade nicht nur darum, der vom EuGH behandelten Pflicht zur Übermittlung einer Abschrift der Betriebsratsmitteilung an die Agentur für Arbeit auch im nationalen Kündigungsrecht die individualrechtliche Relevanz zu nehmen. Vielmehr setzt der Sechste Senat seine im Mai geäußerten Bedenken zur Verhältnismäßigkeit des gesamten Sanktionssystems um, verneint offenbar im Anschluss an die Ausführungen des Generalanwalts den individualschützenden Charakter der Richtlinie als solcher und will daher zukünftig in Verstößen gegen § 17 KSchG insgesamt keine Unwirksamkeitsgründe für Kündigungen mehr sehen.
Und 2024?
Da die geplante Rechtsprechungsänderung nicht nur den Sechsten, sondern auch bzw. primär den für Kündigungsrechtsstreitigkeiten zuständigen Zweiten Senat und dessen Rechtsprechung betrifft, erfolgte eine Anfrage an den Zweiten Senat nach § 45 Abs. 3 Satz 1 ArbGG: Dieser hat auf die Anfrage hin nun seinerseits zu entscheiden, ob er an seiner bisherigen Rechtsprechung und damit am individualschützenden Charakter von (Teilen des) § 17 KSchG festhält.
Beachtet man, dass zwar der Generalanwalt in seinen Schlussanträgen darauf hingewiesen hat, dass der Unionsgesetzgeber in der MERL trotz entsprechenden Vorschlags keine Nichtigkeitsfolge vorgesehen, der EuGH dieses Argument aber nicht aufgenommen hat, und beachtet man weiter, dass der EuGH in seiner Entscheidung vom 13.7.2023 mehrfach darauf hinweist, dass es sich bei der streitentscheidenden Regelung zur Übermittlung der Abschrift um eine Regelung in Teil II („Information und Konsultation“) und nicht in Teil III („Massenentlassungsverfahren“) der MERL handelt, erscheint es zumindest nicht ausgemacht, dass das vollständige Fehlen eines Individualschutzcharakters auch vom Zweiten Senat als so eindeutig angesehen wird, dass dieser sich der Rechtsprechungsänderung anschließt.
Vielleicht tagt daher bald – und erstmals seit März 2001 – wieder der Große Senat? Oder es gibt doch ein weiteres Vorlageverfahren?
Mit den besten Wünschen für ein spannendes neues Jahr Kathrin Schulze Zumkley
Zur Autorin: RAin Dr. Kathrin Schulze Zumkley ist Partnerin der Kanzlei T/S/C Fachanwälte für Arbeitsrecht, Gütersloh, https://www.t-s-c.eu/ und Mitglied des Geschäftsführenden Ausschusses der Arbeitsgemeinschaft Arbeitsrecht im Deutschen Anwaltverein.