Grenzen des Whistleblowing
Ein vorgestern veröffentlichtes Urteil des LAG Köln (vom 05.07.2012 – 6 Sa 71/12) beschäftigt sich mit den Folgen einer vorschnellen Strafanzeige beim Jugendamt wegen angeblichen Fehlverhaltens des Arbeitgebers (Ehepaar) durch eine Arbeitnehmerin (Hauswirtschafterin), die mit der Betreuung von zwei kleinen Kindern im Alter von zehn Monaten und zwei Jahren beschäftigt war. Es handelt sich um einen überaus plastischen Fall, der die Grenzen des Whistleblowings aufzeigt.
Der Hauswirtschafterin war in der Probezeit gekündigt worden. Daraufhin (!) hatte sie sich an das Jugendamt gewandt und über eine Verwahrlosung und dadurch hervorgerufene körperliche Schäden der zehn Monate alten Tochter der Eltern berichtet.
Nach ständiger Rechtsprechung des BAG kann eine vom Arbeitnehmer gegen den Arbeitgeber erstattete Anzeige bei einer staatlichen Behörde einen wichtigen Grund im Sinne des § 626 BGB darstellen. Immer schon war dabei eine Einzelfallabwägung vorzunehmen. Ausgangspunkt: Es entspreche allgemeinem Interesse des Rechtsstaats an der Haltung des Rechtsfriedens und an der Aufklärung von Straftaten, dass auch der Arbeitnehmer zur Aufklärung von Straftaten beitragen darf und dies in besonderen Fällen auch muss, wenn diese vom Arbeitgeber begangen worden sind. Verwerfliche Motive und insbesondere haltlose Vorwürfe können demgegenüber (vgl. BVerfG v. 20.07.2001 – 1 BVR 249/00) einen wichtigen Grund im Sinne des § 626 BGB darstellen. Der Arbeitnehmer dürfe sich auch keinesfalls leichtfertig auf wissentlich oder leichtfertig unrichtiger Informationen stützen und müsse nach einem bis 2011 geltenden Verständnis in jedem Fall vorher einen innerbetrieblichen Klärungsversuch unternommen haben.
Der EGMR (Entscheidung vom 21.7.2011 – 28274/08) hatte im Hinblick auf das Arbeitnehmern zustehende Recht auf freie Meinungsäußerung i.S.d. Art. 10 Abs. 1 EMRK herausgestellt, dass bei der vorzunehmenden Interessenabwägung verschiedene Aspekte von Bedeutung sind. Dabei legt der EGMR anders als die bisherige deutsche Rechtsprechung ein größeres Gewicht auf die Meinungsfreiheit. Wichtig ist auch für ihn, dass der Arbeitnehmer die Offenlegung in gutem Glauben und in der Überzeugung vorgenommen hat, dass die Informationen wahr sind, dass die Anzeige im öffentlichen Interesse liegt und dass keine anderen, diskreteren Mittel existierten, um gegen den angeprangerten Missstand vorzugehen.
Im konkreten Fall war die Bewertung schon nach dem äußeren Sachverhalt erleichtert: Die Eltern hatten innerhalb der Probezeit das Arbeitsverhältnis mit der Hauswirtschafterin gekündigt. Ein internes Gespräch in Bezug auf die angeblichen Vorwürfe gab es nicht, das hatte die Hauswirtschafterin gar nicht erst versucht, sondern direkt eine Anzeige beim Jugendamt erstattet. Im Rahmen der durchzuführenden umfassenden Interessenabwägung stellt das LAG Köln maßgeblich darauf ab, dass die Klägerin die Beklagten leichtfertig durch die vorschnelle Anzeige beim Jugendamt beschuldigt und das Vertrauensverhältnis in einer solchen Weise belastet hat, dass den Beklagten auch unter Berücksichtigung der Zeit bis zum Ende der Kündigungsfrist nach dem Ausspruch der ordentlichen Kündigung die Weiterbeschäftigung nicht mehr zumutbar war.
Angesichts dieses Ablaufs und des fehlenden Versuchs, den Sachverhalt mit dem Arbeitgeber aufzuklären, kam es nicht mehr darauf an, ob tatsächlich Verwahrlosung und körperliche Schäden der Tochter vorlagen. Das LAG hat auch nicht mehr Beweis darüber erhoben, ob ein kinderärztliches Attest, welches auswies, dass die Tochter einen altersgemäß unauffälligen Untersuchungsbefund habe und Zeichen von Verwahrlosung nicht vorlägen, richtig war.
Das Urteil verdeutlicht, dass die Rechtsprechung des EGMR vom 21.07.2011 kein Freibrief für vorschnelle Anzeigen gegen den Arbeitgeber ist. Der EGMR hat das öffentliche Interesse an der Offenlegung von Informationen stärker in der Interessenabwägung konturiert. In dem von EGMR entschiedenen Fall ging es um angebliche Pflegemissstände in von der öffentlichen Hand betriebenen Altenheimen. Die Arbeitnehmerin hatte überdies die Geschäftsführung auf eine nach ihrer Ansicht bestehende unzureichende Personalausstattung hingewiesen. Die Strafanzeige war dann einige Monate später vom Anwalt der Arbeitnehmerin angekündigt worden. Allerdings konnte sie sowohl im Arbeitsgerichts- als auch Strafverfahren ihre Vorwürfe nicht substantiieren (sie konnte „nichts“ dazu vortragen). Die Ankündigung und das Interesse der Öffentlichkeit sind die entscheidenden Unterschiede zu diesem Fall.
Mit dieser Maßgabe kann die Rechtsanwendung die bisherige Rechtsprechung zu Kündigungen wegen Anzeigen gegen den Arbeitgeber und bei Whistleblowing nutzbar machen. Das hat auch das LAG Köln getan Wer sich weiter informieren möchte, kann dies bei Dzida/Naber ArbRB 2011, 238 ff. tun, die die Fallgruppen anhand der Rechtsprechung des BAG unter Berücksichtigung des Entscheidung des EGMR zusammengefasst haben.