Neues zur Erschütterung des Beweiswerts einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung
Der Sachverhalt
Der Kläger legte der Beklagten am 2. Mai 2022 eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vom selben Tag für die Zeit vom 2. bis zum 6. Mai 2022 vor. Mit Schreiben vom 2. Mai 2022, das dem Kläger am 3. Mai 2022 zuging, kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis zum 31. Mai 2022. In einer Folgebescheinigung vom 6. Mai 2022 wurde Arbeitsunfähigkeit des Klägers bis zum 20. Mai 2022 und in einer weiteren Folgebescheinigung vom 20. Mai 2022 bis zum 31. Mai 2022 bescheinigt. Nach den vom Kläger im Prozess vorgelegten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen beruhte die Arbeitsunfähigkeit auf der Diagnose nach ICD-10-Code J06.9. Die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vom 20. Mai 2022 wies zudem die Diagnose nach ICD-10-Code R45.7 auf. Ab dem 1. Juni 2022 war der Kläger wieder arbeitsfähig und nahm eine neue Beschäftigung auf.
Die Entscheidung des BAG
Die Vorinstanzen haben dem Kläger nach der Entscheidung des BAG (Urt. v. 13.12.2023 - 5 AZR 137/23) für den Zeitraum vom 2. bis zum 6. Mai 2022 zu Recht Entgeltfortzahlung wegen Arbeitsunfähigkeit zugesprochen. Sie haben aber verkannt, dass die Beklagte den Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen vom 6. Mai 2022 und vom 20. Mai 2022 erschüttert hat.
- Der Tatrichter kann normalerweise den Beweis einer krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit als erbracht ansehen, wenn der Arbeitnehmer im Rechtsstreit eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vorlegt.
- Aufgrund des normativ vorgegebenen hohen Beweiswerts der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung genügt ein „bloßes Bestreiten“ der Arbeitsunfähigkeit mit Nichtwissen durch den Arbeitgeber nicht, wenn der Arbeitnehmer seine Arbeitsunfähigkeit mit einer ordnungsgemäß ausgestellten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung nachgewiesen hat.
- Vielmehr kann der Arbeitgeber den Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung nur dadurch erschüttern, dass er tatsächliche Umstände darlegt und im Bestreitensfall beweist, die Zweifel an der Erkrankung des Arbeitnehmers ergeben mit der Folge, dass der ärztlichen Bescheinigung kein Beweiswert mehr zukommt.
- Der Arbeitgeber ist aber nicht auf die in § 275 Abs. 1a SGB V aufgeführten Regelbeispiele ernsthafter Zweifel an der Arbeitsunfähigkeit beschränkt.
- Der Arbeitgeber muss nicht Tatsachen darlegen, die den Beweis des Gegenteils ermöglichen.
- Für die Beurteilung des Beweiswerts von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen im Zusammenhang mit Kündigungen ist nicht entscheidend, ob für die Dauer der Kündigungsfrist eine oder mehrere Bescheinigungen vorgelegt werden.
- Bei der Bewertung der Umstände des Einzelfalls ist stets im Blick zu behalten, dass an den Vortrag des Arbeitgebers zur Erschütterung des Beweiswerts der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung keine überhöhten Anforderungen gestellt werden, weil er nur über eingeschränkte Erkenntnismöglichkeiten verfügt.
- Ernsthafte Zweifel an einer bescheinigten Arbeitsunfähigkeit gründen darin, dass ein Arbeitnehmer zu einem Zeitpunkt, zu dem feststeht, dass das Arbeitsverhältnis enden soll, arbeitsunfähig wird und bis zum Ablauf der Kündigungsfrist bleibt.
- Wenn Anhaltspunkte dafür vorgetragen werden, dass der Arbeitnehmer zum Zeitpunkt der Ausstellung der Bescheinigung damit rechnen musste, dass das Arbeitsverhältnis in Kürze enden werde, kann dies bei der Prüfung ernsthafter Zweifel an der bescheinigten Arbeitsunfähigkeit von Bedeutung sein. Dies kann beispielsweise der Fall sein, wenn der Arbeitnehmer durch den Betriebsrat nach § 102 Abs. 2 S. 4 BetrVG angehört wurde oder wenn der Arbeitgeber erkennen lässt, ein befristetes Arbeitsverhältnis nicht verlängern zu wollen. Solche tatsächlichen Umstände lagen im Streitfall indes nicht vor.
Der 5. Senat des BAG entwickelt damit seine Rechtsprechung weiter. Zu beachten ist jedoch, dass dem Arbeitnehmer der Beweis einer krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit durch andere zulässige Beweismittel möglich bleibt.
RA FAArbR Axel Groeger, Bonn www.redeker.de