Prüfung der Reichweite der Tarifautonomie durch das BVerfG - Der Krimi zu den tarifvertraglichen Nachtarbeitszuschläge steht vor der letzten Folge
Beim BAG sind etwa 400 Revisionsverfahren anhängig, die die unterschiedliche Höhe von tarifvertraglichen Nachtarbeitszuschlägen zum Streitgegenstand haben. In den unteren Instanzen sollen noch etwa 4.000 Verfahren ruhend gestellt sein. Am 9.12.2020 erfolgte durch das BAG eine wichtige Weichenstellung. Unterschiedliche tarifvertragliche Nachtarbeitszuschläge für regelmäßige und unregelmäßige Nachtarbeit hält das BAG demnach für zulässig (BAG v. 9.12.2020 – 10 AZR 332/20 (A), ArbRB 2021, 163 [Einfeldt]). Demgegenüber sollen unterschiedliche tarifvertragliche Nachtarbeitszuschläge für Nachtarbeit in einem Schichtsystem und Nachtarbeit außerhalb eine Schichtsystems gegen den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG verstoßen. Das BAG hat deshalb eine Anpassung des geringeren Nachtarbeitszuschlags nach oben auf den höheren Zuschlag vorgenommen und dem Kläger die Differenzansprüche zugesprochen.
Gegen diese Entscheidung des BAG haben sowohl der Arbeitgeberverband, der Tarifpartner ist, als auch das unterlegene Unternehmen Verfassungsbeschwerde nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG eingelegt. Gerügt wird u.a. ein Verstoß gegen Art. 9 Abs. 3 GG. Diese ist unter dem Aktenzeichen 1 BvR 1109/21 anhängig. Auf dem Prüfstand steht damit die Reichweite der Tarifautonomie (ausführlich Kleinebrink, ArbRB-Blog v. 1.3.2023: „Der Krimi zu Nachtarbeitszuschläge in unterschiedlicher Höhe – die 2. Staffel ist noch nicht beendet“).
Gegen diese Entscheidung des BAG bestehen erhebliche verfassungsrechtliche Bedenken, die bereits in verschiedenen Veröffentlichungen dargelegt wurden (s. nur Kleinebrink, Anmerkung zu BAG v. 9.12.2020 – 10 AZR 334/20, AP Nr. 21 zu § 6 ArbZG; ders. Die Erhöhung tarifvertraglicher Nachtzuschläge durch Urteil, NZA 2019,1458).
In dem vor dem BVerfG anhängigen Verfahren hat das Gericht die ihm nach § 27a BVerfGG zustehende Möglichkeit genutzt, sachkundige Dritte um Stellungnahmen zu bitten. Hierbei handelt es sich insbesondere um Spitzenorganisationen der Arbeitgeberverbände und der Gewerkschaften. In den Stellungnahmen sollen – wenn möglich – Fragen berücksichtigt werden, die das Gericht detailliert stellt.
Auf den ersten Blick verwundert es, wenn das BAG trotz dieses vor dem BVerfG anhängigen Verfahrens, in dem die Reichweite der Tarifautonomie gerade im Hinblick auf die unterschiedliche Höhe von tarifvertraglichen Nachtarbeitszuschläge festgestellt werden soll, in jüngerer Zeit weitere Verfahren, die ebenfalls die unterschiedliche Höhe tarifvertragliche Nachtarbeitszuschläge betreffen, zulasten von Arbeitgebern entschieden hat (s. nur BAG v. 22.3.2023 – 10 AZR 499/20; BAG v. 22.3.2023 – 10 AZR 600/20; BAG v. 22.3.2023 – 10 AZR 553/20).
Das BAG geht aber bei einer entsprechend Anwendung 148 Abs. 1 ZPO äußerst restriktiv vor. Die Verfassungsbeschwerde wird nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG als außerordentlicher Rechtsbehelf durch die unterlegene Partei eingelegt. Schon deshalb kommt nach Ansicht des BAG eine gleichsam automatische Aussetzung der Verhandlung, selbst wenn es sich um ein Parallelverfahren handelt, nicht in Betracht (BAG v. 10.9.2022 – 6 AZR 136/19 (A)).
Andererseits, so das BAG, kann bei parallel gelagerten Fällen eine einzelne Verfassungsbeschwerde ausreichen, um eine umfassende Klärung der verfassungsrechtlichen Fragen durch das Bundesverfassungsgericht zu ermöglichen. Dies ist der Fall, wenn weitere zu erwartende Verfassungsbeschwerden nicht zu einer Verbreiterung der Entscheidungsgrundlage für das Bundesverfassungsgericht führen und das Verfassungsbeschwerdeverfahren nicht beschleunigen würden. In diesem Spannungsfeld soll im Arbeitsgerichtsverfahren eine Aussetzung in entsprechender Anwendung des § 148 Abs. 1 ZPO nur möglich sein, wenn eine Abwägung zwischen der Gefahr sich widersprechender Entscheidungen und dem Beschleunigungsgebot des § 9 Abs. 1 ArbGG eine Aussetzung unter Berücksichtigung der Interessen beider Parteien angemessen erscheint. Dies ist nach Ansicht des BAG bei der nach § 148 Abs. 1 ZPO vorzunehmen Ermessensausübung anhand der Umstände des Einzelfalls zu beurteilen (BAG v. 10.9.2022 – 6 AZR 136/19 (A)).
Im Rahmen dieser Ermessensausübung ist das BAG wohl zu dem Ergebnis gekommen, dass es hinsichtlich der anhängigen Verfassungsbeschwerde keiner Aussetzung bedarf.
Arbeitgeber, die in Verfahren, die denselben Streitgegenstand betreffen, vor dem BAG unterliegen, haben daher keine andere Möglichkeit, als ihrerseits Verfassungsbeschwerde nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG zu erheben. Ansonsten wird die Entscheidung selbst dann rechtskräftig, wenn das BVerfG die angegriffene Entscheidung in dem Verfahren Az. 1 BvR 1109/21 für unwirksam erklärt.
Dennoch steht der Krimi zu den tarifvertraglichen Nachtarbeitszuschläge vor der letzten Folge. Nach der Entscheidung des BVerfG wird endgültig feststehen, welchen Spielraum die Tarifvertragsparteien insoweit haben.